II. Die Namengebung.

[186] In einer alten jüdischen Erzählung, die an mehreren Midraschstellen vorkommt1 und durch die Jahrhunderte erhalten blieb,2 benennt Adam die von Gott geschaffenen Tiere, welche paarweise an ihm vorüberziehen, und beweist dadurch, daß er höher stehe als die Engel. Auch die islamischen Quellen3 berichten das. In den Volkstraditionen gibt entweder Noah beim Austritt der Tiere aus der Arche oder Gott selbst nach der Schöpfung die Namen.[186]

Am Schluß einer ungarischen Flutsage (vgl. Bd. 1, S. 269) heißt es:


Noah ließ nun die Tiere aus der Arche heraus, gab jedem einen Namen: »Das ist der Hund, das die Katze.« Seither hat jedes Tier den Namen. Die Arche ließ Noah oben auf dem Berge Armeniens zurück, wo sie stehen geblieben war; dann baute er Weinreben an.


  • Literatur: Herrmann, Globus 63, 335, Nr. 3.

Eine ähnliche Vorstellung findet sich in Bulgarien:


Als Noah die Arche fertig hatte, da klopfte er mit einem Hammer an alle vier Seiten eines Stützbalkens, um alle Tiere zu versammeln und sie vor dem Ertrinken zu retten. Die Tiere versammelten sich alle in der Arche. Als die Sintflut zu Ende ging und die Arche auf der Erde sit zen blieb, da entließ Noah alle Tiere. Sie verneigten sich alle vor ihm und sagten dankend: »Lebe in Gesundheit!« Er verabschiedete auch jedes Tier beim Namen und sprach: »In Gesundheit, Elefant! In Gesundheit, Pferd! In Gesundheit, Kuh!« usw. Als nun die Reihe an jene Tiere kam, deren Namen Noah nicht wußte, da kam auch der Esel heran, und Noah, seinen Namen nicht wissend, sagte: »In Gesundheit, Esel!« Als die anderen Tiere hörten, daß ihn Noah Esel getauft habe, da lachten sie und spotteten ihn: »Esel, Esel!« Der Esel kränkte und schämte sich gar sehr und jammerte, als ob der Himmel herabgefallen wäre. Die Tiere wunderten sich, als sie sein Jammern hörten, als sie aber sahen, daß es der Esel sei, da gingen sie ihrer Wege. Der Esel kam nun weinend und klagend zu Noah in die Arche und beklagte sich, daß ihn alle Tiere spotteten, weil er ihm den Namen Esel gegeben habe. Noah sprach: »Du wirst doch kein Hase mit langen Ohren sein wollen! Dann würden sie dich noch mehr auslachen, und du würdest noch mehr weinen!« »Ach, Noah,« sprach der Esel, »lasse mich ein Hase werden!« »Na, wenn du mich nicht verstehst,« versetzte Noah, »so mögen dir die Hasenohren wachsen!« Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, da wuchsen dem Esel lange Ohren. Er ging nun fort, und als ihn die Tiere sahen, da lachten sie ihn noch mehr aus. Weil ihm Noah diesen Namen gegeben, deshalb weint der Esel auch heute noch. Dies nützt ihm aber nichts, denn Esel heißt er, und als Esel verreckt er. Auch noch heute kann man die Esel über diese Benennung weinen sehen, wenn mehrere beisammen sind.


  • Literatur: Strauß, Bulgaren, S. 70.

Von Noah und dem Esel erzählt man auch in der Gegend von Paderborn:


Als Vater Noah schon die meisten Tiere in der Arche zusammen hatte, wollten seihe Söhne auch den langohrigen Grauschimmel hineinbringen. Aber der war störrisch und wollte nicht über das Brett. (Vgl. Bd. 1, 266 f.) Einer zog am Zaum, der andere schob nach, der dritte hielt und schimpfte: das half alles nichts. Zuletzt kam der Alte selber, klopfte ihn auf den Hals und sagte: »Nun, Hans, du weißt doch, der Schöpfer hat's befohlen, daß ihr alle in die Arche gehen sollt.« Da nahm Hans Vernunft an und sprach: »Das hab' ich dummer Esel nicht gewußt!« Tat einen Satz, und drinnen war er. Daher hat der Esel seinen Namen.


  • Literatur: Ztschr. d.V.f. rhein. u. westf. Volksk. 6, 24. (Durch slawische Arbeiter nach Paderborn gebracht?)

Der natürlichere Vorgang, daß Gott der Schöpfer die Namen gibt, wird in Ungarn in folgender Weise erzählt:


Als Gott die Welt geschaffen hatte, versammelte er alle Tiere und gab jedem einen Namen. »Man soll dich ›Pferd‹, dich ›Löwen‹, dich ›Wolf‹, dich ›Bären‹, dich[187] ›Fuchs‹ nennen,« sagte er zu ihnen. Dann befahl er ihnen, am nächsten Tag wieder zu kommen, um zu prüfen, ob sie ihre Namen nicht vergessen hätten. Der Esel war damals ein hübsches, niedliches Tier, er hatte keine langen Ohren, und Gott hatte ihm einen der hübschesten Namen gegeben und ihm gesagt, ihn ja nicht zu vergessen.

Als sich die Tiere am nächsten Tag versammelten, konnte jeder seinen Namen sagen, nur der Esel nicht, der hatte ihn vergessen. Darüber wurde Gott böse, nahm die beiden Ohren des Tieres und machte sie durch einen starken Schlag länger und sagte: »Esel, der du bist, da du so schnell vergißt.« Seitdem ist der Arme ein ›Esel‹ geblieben und hat seine langen Ohren behalten.


  • Literatur: Revue des trad. pop. 7, 482 = Arany-Gyulai, Magy. Népköltési Gyüjtemény 1, 495; vgl. Kálmány, Szeged Népe 2, 140 = Crane, Italian populär tales p. 190 = Pitrè, Cinque nov. pop. sicil. p. 8.

Übereinstimmende Sage in Sizilien:


Als der Herr die Welt schuf, schuf er auch die Tiere und gab jedem von ihnen einen eigenen Namen. Da fragte der Esel: »Herr, wie heiße ich?« »Esel!« sagte der Herr. Und der Esel ging seiner Wege. Während er aber dahintrottete, vergaß er den Namen und wandte sich noch einmal an den Herrn, um ihn danach zu fragen. Der Herr wiederholte ihm den Namen, aber der Esel vergaß ihn bald wieder und fragte wiederum den Herrn. Da verlor dieser die Geduld, zog ihn kräftig an den Ohren und wiederholte ihm den Namen: »Esel! Esel!« Davon sind seine Ohren so lang geworden.


  • Literatur: Pitrè, Usi e cost. Sie. 3, 422, Nr. 2.

Unter den Pflanzensagen gibt es eine pommersche Parallele, die hier passend einzuschalten ist:


Als Gott, der Herr, den Adam geschaffen hatte, gab dieser allen Pflanzen Namen, und eine jede behielt denselben getreu im Gedächtnis. Nur eine kleine, blaue Blume kam bald darauf zu dem Menschen zurück und bat um einen neuen Namen, da sie den ihrigen vergessen habe. Da ward Adam sehr zornig und sprach: »Du dummes Geschöpf, weil du so vergeßlich bist, sollst du deinen Standort zur Strafe nur an Quellen oder stehenden Gewässern haben und in alle Ewigkeit den Namen ›Vergiß mein nicht‹ führen«. Und so ist es denn auch geblieben bis auf diesen Tag.


  • Literatur: U. Jahn, Volkssagen aus Pommern und Bügen, S. 491.

In einer Variante vom Bodensee gibt Gott selbst den Blumen ihre Namen, und als jenes vergeßliche Blümchen zu ihm kommt, sagt er nur zu ihm: »Vergiß mein nicht!« Darauf ist es weggegangen und hat bis auf den heutigen Tag den Namen behalten.


  • Literatur: Vernaleken, Alpensagen, S. 293.

Außer dem Motiv des Vergessens spielt auch das der Unzufriedenheit, das wir zuvor kennen gelernt haben, gelegentlich in diese Sagengruppe hinein. Zu den oben angeführten Vogel- und Fischsagen stellen sich als nahe verwandt folgende


Sagen aus Pommern:


a) Als unser Herrgott die Tiere erschaffen hatte, erhielt ein jegliches seinen Namen, nur der Kuckuck ging leer aus. Das verdroß ihn, und er flog vor Gottes[188] Thron und sprach: »Hab' ich denn keinen Namen bekommen?« – »Nein!«4 sprach der liebe Gott. Da sagte der erboste Vogel:


»So will ich denn der Kuckuck sein

Und ewig meinen Namen schrei'n!«


Seit der Zeit hört man von ihm keinen anderen Laut als allein das Wort Kuckuck.


  • Literatur: U. Jahn, Volkssagen aus Pommern und Rügen, S. 472.

b) Als der liebe Gott den Tieren Namen gab, kam unter anderen auch die Flunder zu ihm und fragte, wie sie heißen solle. Gott der Herr gab ihr den Namen ›Flunder‹. Sie aber sagte verächtlich mit verzogenem Munde: »Päh! Flu-u-nder!« Zur Strafe dafür blieb ihr seit der Zeit der Mund schief stehen.


  • Literatur: Bl. f. pomm. Volksk. 5, 139, Nr. 5.

Fußnoten

1 Vgl. Midrasch Kohelet, cap. 7, 23 (übers, von Wünsche S. 107): Als Gott den ersten Menschen erschaffen wollte, beriet er sich mit den Dienstengeln und sprach: »Wir wollen einen Menschen machen!« »Herr der Welt!« sprachen sie, »was ist der Mensch, daß du seiner gedenkest (Ps. 8, 5)?« »Der Mensch, den ich erschaffen will,« antwortete er, »wird euch an Weisheit übertreffen.« Was tat er? Er rief alle Haus- und Waldtiere und alle Vögel zusammen und stellte sie vor dieselben hin mit den Worten: »Gebt ihnen Namen!« Sie standen da und konnten es nicht. Er wandte sich darauf an den Menschen mit den Worten: »Wie heißen dieselben?« »Herr der Welt!« antwortete der Mensch, »dieses Tier soll Ochse, jenes Löwe, dieses Pferd, jenes Kamel, dieses Adler usw. genannt werden.« »Und wie du?« »Adam, denn ich bin von Erde erschaffen.« »Und wie soll ich heißen?« »Adonai, mein Herr, denn du bist Herr aller deiner Geschöpfe.«

Ferner: Bereschit Rabba, Par. 27, cap. 2, 19 (Wünsche S. 75). Tractat Chullin fol. 27 b. (Wünsche S. 83).


2 Vgl. Rönsch, Das Buch der Jubiläen, S. 364, 399; Dillmann, Das christl. Adambuch, S. 33 f.; Kalonymos, S. 47; Jüdisch-deutsche Bibelübersetzung 1755 bei Grünbaum, Jüdisch-deutsche Chrestomathie, S. 179. (Ebd. eine Stelle aus einem hebräischen Buche, wo Adam auch den etymologischen Grund angibt, warum er Pferd, Esel, Adler so benannt habe: das Pferd wegen seines fröhlichen Wesens, den Esel wegen seiner Schwerfälligkeit und den Adler, weil ihm die Federn ausfallen (hierüber: Borchart, Hierozoikon 2, 167; diese Worterklärungen beruhen auf dem Comm. der Bechaj zu Gen. cap. 2). Strauß, Die Bulgaren, S. 71 = Sbornik umotvor. 8, 180.


3 Koran, Sure 2, 29; Tabarî, Chronique ed. Zotenberg 1, 76.


4 Es muß wohl nach dem Zusammenhang heißen: »Nein, guck dich nur nach einem um, guck, guck!« Vgl. die Verwandlungssage bei Sutermeister, Schweizer Märchen, wo das Büblein der nach Geld spähenden Alten zuruft: »Flieg auf und ruf: guck! guck!«


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 189.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Knigge, Adolph Freiherr von

Über den Umgang mit Menschen

Über den Umgang mit Menschen

»Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.« Adolph Freiherr von Knigge

276 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon