I. Was der Wolf fressen darf.

[295] Aus Estland.


a) Der Wolf litt großen Hunger. In seiner Not kam er zum lieben Gott und bat um Speise. Der liebe Gott fragte ihn: »Was möchtest du denn fressen?« »Darf ich das anfallen, was Wolle und Hufe trägt?« »Nein, das darfst du nicht, denn es ist mein allerfrömmstes Tier!« »Darf ich die Schnauzenträger rauben?« »Nein, auch nicht, denn sie sind die Hauswächter der Menschen!« »Was soll ich denn aber nehmen und essen?« heulte der Wolf. »Von jedem Bauernhof, wo Brot gebacken wird, sollst du einen Laib erhalten,« sprach der liebe Gott. »Bist du mit diesem Essen zufrieden?« »Juchhei!« schrie der Wolf, »das ist mir recht!« und ging seines Weges. Jetzt führte Isegrim ein herrliches Leben. Er schlang und schlief, wie es nur ein reicher Faulpelz tut.

Einer Bauernfrau war es aber leid um das Brot, das der Wolf jedesmal erhielt. Als er nun wiederkam, warf sie ihm statt des Brotes einen glühenden Stein vor. Der Wolf versengte sieb das Maul und lief heulend und fluchend in den Wald. Seitdem hat er auch einen schwarzen Rachen.

Dann kam er wieder zum lieben Gott, klagte ihm seine Not und sprach: »Für Brot gab man mir einen glühenden Stein, woran ich mir das Maul versengte. Da getraue ich mich nicht mehr hin! Was soll ich aber jetzt essen?« »Nun, wenn die Dinge so stehen,« sprach der liebe Gott, »so darfst du überall einbrechen, wo Rauch aufsteigt und eine Tür angebracht ist.«

Seitdem würgt der Wolf alles nieder, was ihm nur in die Krallen fällt.


  • Literatur: Harry Jannsen, Märchen und Sagen des esthnischen Volkes. 2. Lieferung 1888. S. 60 f.

b) Daß der Wolf Schafe frißt, ist die Schuld einer faulen und vorwitzigen Wirtin. Früher tat er es nicht, sondern hütete die Schafe wie der treueste Wächterhund. Zum Lohn dafür bekam er allabendlich von der Wirtin ein warmes Brot. Der Wolf verkehrte harmlos mit den Menschen und ging in ihren Stuben friedlich ein und aus. Als er einmal wieder wie gewöhnlich am Abend durch das Fenster (ein Schiebefenster aus Holz, so wie man sie in früheren Zeiten in Bauerstuben hatte) hereinkam, warf ihm die Wirtin statt des Brotes einen glühenden Stein in den Rachen und verbrannte ihm den ganzen Rachen, der daher heute noch[295] schwarz ist. Seitdem zerreißt der Wolf die Schafe und rächt sich an dem ganzen Geschlecht der Wirtinnen. (Aus Saara.)


c) Vor Zeiten, als der Wolf noch ein gutes Tier war, hütete er die Herden der Dorfbewohner und erhielt dafür zum Lohn ein Laib Brot aus jedem Gesinde. Ein Kätnerweib versuchte, das zu umgehen. Sie suchte einen Stein, der einem Laib Brot ähnlich sah, machte ihn im Feuer schwärzlich, so daß er auch die Farbe des Brotes hatte, und gab ihn dem Wolfe. Der Wolf verbrannte sich das Maul an dem heißen Steine, so daß seine Lippen ganz hell wurden. Darum hat der Wolf heute noch weiße Lippen und rächt sich, indem er die Haustiere zerreißt. (Aus Turgel.)


d) Gott hatte alle Tiere erschaffen, nur den Wolf nicht. Der Teufel fragte Gott: »Warum blieb der Wolf ungeschaffen?« Gott sagte: »Schaff ihn selbst!« Der Teufel nahm eine Radfelge und einen Zaunstecken und machte aus ihnen einen Wolf, deswegen ist der Wolf noch jetzt steif. [Vgl. hierzu und zum flgd Bd. 1, 151.]

Beseelen kann der Teufel den Wolf nicht. Er fragt Gott und bittet ihn, den Wolf zu beseelen. Gott sagt, wie der Wolf beseelt werden kann. Der Teufel berührt den Wolf, ruft aber: »Wolf, geh, friß Gott!« Der Wolf rührt sieh nicht. Zuletzt klettert der Teufel auf einen großen Baum, berührt den Wolf mit einer langen Stange und ruft: »Wolf, komm, friß den Teufel!« Sofort war der Wolf lebendig und wollte den Teufel packen, aber er erreichte ihn auf dem hohen Baume nicht. Und der Wolf ging die Wälder durchstreifen. Aber er fand nirgends zu essen, der Hunger tat weh, und er ging und klagte Gott, warum er und kein Essen für ihn geschaffen sei. Und Gott ordnete an, daß eine jede Hausfrau, wenn sie Brot backe, ein Brot für den Wolf backen und auf den Pfosten der Pforte legen solle.

Bald aber wurden die Frauen überdrüssig, dem Wolf auch Brot zu backen, und gaben ihm nichts mehr.

Der Wolf klagte wiederum Gott, daß er nichts zu essen habe. Gott sagte: »Geh und friß diesen Schneider!« Der Wolf kam zum Schneiderund sagte: »Gott befahl mir, dich aufzuessen!« Der Schneider: »Steh still, ich nehme zuerst Maß, ob ich in deinen Magen passe.« Und dabei schlug er den Wolf mit seiner Elle, daß der Wolf mit Mühe davonkam. (Vgl. oben S. 43.)

Der Wolf klagte wieder Gott, er habe vom Schneider Prügel bekommen, habe ihn nicht essen können und sei hungrig. »Geh und friß jenes Roß!« sagte Gott. Der Wolf kam zum Roß und sagte: »Gott befahl mir, dich aufzuessen!« Das Roß sagte: »Geh hinter mich und lies; unter meinen Hufen steht, wie alt ich bin.« Der Wolf tat es, da schlug ihm das Roß die Backenknochen ein.

Als der Wolf wieder Gott klagen ging, erlaubte er dem Wolf den Widder zu fressen. Mit derselben Anrede begrüßte der Wolf den Widder wie den Schneider und das Roß. Der Widder sagte: »Stehe du hier unten am Berge, das Maul aufgesperrt, ich werde dir von oben geradeswegs in den Magen laufen.« Der Widder lief mit seinen Hörnern ins Maul des Wolfes und gab ihm einen solchen Stoß, daß der Wolf kopfüber fiel. Als er sich vom Fall erholt hatte, schrie er: »Auu, auu! ging er nun in den Magen oder ging er vorüber?«

Zuletzt sagte Gott dem Wolf, er solle das Schwein fressen. Das Schwein bat, ob es bevor etwas weinen könne, ehe es gefressen werde. Auf das Geheul des Schweines kamen die Dorfweiber zusammen, und der Wolf wurde aufs neue durchgeprügelt. Ganz zerschlagen an allen Gliedern kam der Wolf wieder zu Gott. Und nun sagte Gott: »Gehe in den Wald und friß, was du festbekommst.«

[296] Seit der Zeit hat der Wolf das Recht, alle Tiere zu fressen, die ihm in den Weg kommen. (Aus St. Katharinen.)


e) Der Wolf fragte Gott, welche Tiere er fressen dürfe, welche nicht. Gott erlaubte ihm, alle Tiere zu fressen, mit denen er fertig zu werden glaube. »Darf ich den Menschen auch fressen?« fragte der Wolf. Statt der Antwort schlug Gott mit einem feurigen rollenden Stab den Wolf, so daß ihm die Haare versengt wurden. »Den Menschen darfst du nie und nimmer anrühren, auch dann nicht, wenn du den größten Hunger hast, darum soll dein Fell einen starken Geruch haben, damit man schon von weitem merken kann, wenn der Bösewicht kommt!« (Aus Alt-Odenpäh.)


  • Literatur: b) bis e) aus dem hdschr. Nachlaß von J. Hurt. In diesen Zusammenhang gehört auch folgender Glaube der Schweden in Estland:

Wenn die Wölfe sehr heulen, so glaubt man, sie riefen Gott um Nahrung an, und er werfe ihnen aus dem Himmel Klumpen wie Schleifsteine zu.


  • Literatur: Rußwurm, Eibofolke S. 201.

2. Lettische Sagen.


a) Ein Bauer hatte 4 Knechte: den Wolf Waldmann als Kuhhirten, den Hund Packan als Großknecht, den Kater Hinz als Rijenheizer, den Hahn Vögelchen als Hausaufseher. Eines Tages ärgert er sich über seine Knechte und jagt den Hahn auf den Boden, den Kater auf den Ofen, den Wolf in den Viehstall, und dem Hund verweigert er das Futter. Der Wolf fordert dreist seinen Lohn, der Bauer wirft ihm statt dessen einen glühenden Stein in den Rachen, so daß ihm der Bart versengt wird und die Schnauze noch heute die Spuren davon trägt. Der Wolf läuft erzürnt in den Wald.

(Der Hund klagt ihm seine Not, daß er schlecht gefüttert wird. Der Wolf gibt ihm den Rat, ihm ein Lamm abzujagen; zum Dank läßt der Hund ihn bei einer Hochzeit ein, so daß er sich sattfressen kann, aber in der Betrunkenheit fängt der Wolf zu singen an und wird halb totgeschlagen.)


  • Literatur: Lerchis-Puschkaitis II, 7.

b) Der Teufel schafft den Wolf mit Hilfe eines Zaunpfahls usw. Gott gibt ihm Leben, da der Teufel ihn zum Schafhirten bestimmt hat. Als Lohn bestimmt ihm Gott das Ausschrapsel aus dem Backtrog der Bäuerin.

Aber die geizige Bäuerin gibt ihm den ausbedungenen Lohn nicht.

Da erlaubt ihm Gott sich an den Schafen schadlos zu halten. Die Bäuerin rächt sich für den Schaden, indem sie dem Wolf einen glühenden Stein in den Rachen wirft. »Den Stein spie er zwar sofort wieder aus, aber Zunge und Rachen sind dem Kerl bis zum heutigen Tage rot. Er lief in den Wald und verschwor sich, nie wieder Hirtendienste zu übernehmen, aber die Schafe wolle er zausen bis aufs äußerste. Dann möge die Wirtin seinethalben auf einer Radnabe pfeifen!«


  • Literatur: Ebenda.

c) In alten Zeiten diente der Wolf als Hirt. Einstmals fühlte er das Verlangen, sich zu sättigen, ging zur Hausfrau und bat sie um Essen. Doch diese war ein geiziges und schlechtes Weib: sie ergriff die Brotschaufel und stieß sie dem Wolf in den Rachen. Sofort lief der Wolf zu Gott und fragte ihn, was er nun tun solle. Der Herr antwortete: »Da die Hausfrau dich so beleidigt hat, so gehe zum Hirten und nimm ohne zu fragen das, was ich dir geben werde.« Der Wolf erwiderte: »Rohes Fleisch! Man kann es nicht einmal essen.« Da sagte Gott: »Nimm es dreimal[297] in den Mund und sprich dazu: ›und gebraten und gekocht!‹ (Te cepts te vārits.)« Und bis auf den heutigen Tag macht es der Wolf gewöhnlich so.


  • Literatur: Živaja Starina 5, 429, Nr. 2.

d) Es wird erzählt, daß der Teufel den Wolf erschaffen und ihm an Stelle des Rückgrates einen Zaunpfahl eingesetzt habe. Als alles fertig war, versuchte er, das Tier zu beleben, allein es gelang ihm nicht. Da bat er Gott um Leben für sein Geschöpf. Der Herr weigerte es ihm anfänglich und wollte erst die Bestimmung des Tieres erfahren. Der Teufel erwiderte, daß es Hüter der Schafe sein solle. Daraufhin gab Gott dem Teufel Leben für sein Geschöpf und bestimmte, daß jede Hausfrau, bei welcher der Wolf als Schafhirt dienen würde, beim Brotbacken jedesmal ein Brot aus zusammengescharrtem Mehl ihm als Lohn geben solle. – Der Teufel gab sein Geschöpf als Schafhirten zu einer bösen Hausfrau. Der neue Hirt kam seinen Pflichten vorzüglich nach, aber die Hausfrau gab ihm durchaus nicht jedesmal beim Backen ein Brot, so daß der Arme fast vor Hunger starb. Der Hirt ging zu Gott und beklagte sich. Da erlaubte ihm der Herr jedesmal, wenn er seinen Anteil an Brot nicht bekäme, sich ein Schaf zu nehmen, – dabei solle er es dreimal gegen den Boden schlagen und dazu sprechen: »Halbgebraten, halbgekocht« (›puscepts, pusvārits‹) und es dann an Stelle des Brotes auffressen. Der Hirt war entzückt von dieser Entscheidung und nahm jedesmal das beste Schaf. Die böse Hausfrau bemerkte die Abnahme der Herde, achtete auf den Hirten und sah, wie dieser es trieb. [Auf die Erklärungen des Wolfes hin verspricht die Hausfrau, den Lohn gewissenhaft zu zahlen, hält aber ihr Versprechen nicht, sondern] nahm einen weißglühenden Stein auf die Brotschaufel und schrie dem Wolf zu: »Sperr dein Maul so weit auf, wie du kannst, ich werde dir das Brot hineinwerfen!« Der Hirt öffnete sein Maul bis zu den Ohren, aber die Hausfrau warf ihm den glühenden Stein in den Schlund. Der Wolf wurde fast verrückt vom furchtbaren Schmerz, lief in den Wald und kehrte nicht mehr zurück. Dafür aber, daß die Hausfrau ihn betrogen, beschloß er, nicht mehr als Hirt zu dienen, sondern lieber im Walde umherzuschweifen und vom Raub der Schafe zu leben. Der Stein aber, welchen ihm die Hausfrau in den Rachen geworfen hatte, war so heiß gewesen, daß er ihm die Schnauze versengt und das Maul und die Kehle ausgebrannt hatte. Darum hat der Wolf bis heute noch eine schwarze Schnauze, ein rotes Maul und eine weite Kehle. Der Stein stak sehr lange in der Kehle, weswegen der ausströmende Dampf das Fell am Unterkiefer versengte. Darum also hat jetzt dieser frühere Hirt ein weißes Kinn.

Als dieses Teufelsgeschöpf nicht mehr als Schafhirt diente, wollte man es nicht mehr den Hüter nennen, doch wußte man nicht, wie man es nennen solle; darum blieb es eine Zeitlang ganz ohne Namen. Einstmals packte dieser Ungenannte ein so großes Schaf, daß er es nicht tragen, sondern nur auf der Erde schleppen konnte. Der Hirt, welcher diese gesehen hatte, schrie dann zu Hause: »Er schleppte (vilka) das Schaf in den Wald! Er schleppte das Schaf fort (evilka) in den Wald!« Nach diesem Worte: »schleppte« (vilka) gab man ihm den Namen: »Wolf« (vilks).


  • Literatur: Živaja Starina 5, 428 Nr. 1. (Aus Rakstu Krājums. 3, 111–112; ähnlich, ebd. 2, 123–124.)

e) Man erzählt, daß man früher weder der Hirten noch der Pferdeknechte bedurfte. Morgens ließ die Wirtin das Vieh auf die Weide. Der Wirt trieb die Pferde auf die Weide. Und dort weidete und beaufsichtigte sie der Wolf. Abends trieb er sie pünktlichst heim, und jede Wirtin hatte für ihn ein kleines gebackenes Laib Brot,[298] nicht größer als der Handteller. Der Wolf öffnete den Bachen, sie warf ihm das Brot hinein, und das war sein ganzer Lohn für seine Mühe. Aber eine Wirtin wurde es zuletzt überdrüssig, diese Laibe zu backen. Sie nahm also eines Tages ein rundes Steinchen, erhitzte es im Ofen und warf es ihm in den Rachen. Der Wolf ergrimmte furchtbar, und seitdem hörte er auf zu weiden und fing an, den Menschen das Vieh zu rauben.


  • Literatur: Zbiór wiadomósci 15, 271 (Aus Polnisch-Livland).

Die eigentümliche Vorstellung, daß Gott dem Wolf die Erlaubnis zum Rauben gegeben habe, entspricht einem in Rußland verbreiteten Glauben, wonach Sankt Georg als Beschützer der Herden1 und der Wölfe angesehen wird. Er erteilt ihnen die Weisungen, wo und womit sie sich ernähren sollen. In der volkstümlichen Rede heißt es: »Was der Wolf frißt; hat ihm Georg gegeben,« oder – indem Georg mit Gott vertauscht wird – »der Wolf frißt kein einziges Geschöpf ohne Gottes Erlaubnis«. (Afanasiev, Nar. russk. skazki 4, 155.) Dementsprechend gibt es folgende


Russische Sagen.


a) Ein Hirt beobachtet von einer Eiche aus, wie Georg die Wölfe nach allen Seiten aussendet und jedem befiehlt, wovon und wo er sich nähren soll. Ein lahmer Wolf fragt: »Was erhalte ich?« »Für dich sitzt es auf dem Baume!« Der Wolf wartet einen Tag, zwei Tage, bis der Hirt herabkomme. Schließlich versteckt er sich im Gebüsch. Als der Hirt nun herunterkommt, frißt er ihn auf.


  • Literatur: Afanasiev, Narodn. russk. skazki 4, 44.

b) In den ersten Tagen der Schöpfung wußten die Tiere noch nicht, wie sie sich zu benehmen und was sie zu tun hatten, waren noch nicht mit den Leuten und an ihrem Aufenthaltsort eingelebt und kannten nicht einmal Ordnung und Obrigkeit unter sich. Keiner wußte, wer den andern verschlingen und mit wem man friedlich leben, mit wem man sich verstehen und nicht verstehen, wen man erwürgen und wen man fürchten solle.

Ein grauer Wolf, abgemattet durch dreitägiges Hungern, konnte das sehnsuchtsvoll gehoffte, ihn von seinem Fasten lossprechende Fetwa nicht erwarten und entschloß sich, einen kleinen Ausflug in die weite Welt zu machen. Denn wie der Fuchs, der mit einem Huhn im Maul an seinem Lager vorüberlief, ihm zugeflüstert hatte, sprach dort der tapfere Georg Urteil und Recht und hielt über klein und groß Gericht.

Der Wolf erreichte glücklich sein Ziel. Aber als er die lärmende Tiermenge erblickte, dachte er bei sich: Da wird nichts für dich zu machen sein. Es ist besser, ich lebe nach meiner Weise fort. Ich bin kein Narr. Ich weiß recht gut, daß man mir und allen Leuten gesagt hat: ›Du kannst ewig leben und ewig lernen, und[299] wirst doch wie ein Narr sterben!‹ Solange ich noch Zeit habe, solange mein Tod noch nicht da ist, will ich kein Narr sein.

Es scheint, daß Herr Isegrim schon damals kein reines Gewissen hatte. Und somit begab er sich wieder nach Hause, warf sich auf die Seite und begann zu seiner Unterhaltung mit den Zähnen knackernd seinen Pelz zu besichtigen. Die Nacht brach ein, und der Wolf überlegte, daß er auf diese Weise nicht satt würde- »Welcher Jammer!« brummte er in sich hinein. Er kroch aus seiner Höhle und lebte etwas auf, als ein scharfer Nachtwind ihm durch den Pelz fuhr. Er durchstrich ein breites Tal und witterte bald etwas Lebendiges. Es war da eine Herde von Ssaigaks (Kamelpardern), die damals sehr dumm und sehr fromm waren, wie heutzutage die Schafe. So konnte sie der Wolf mit der größten Bequemlichkeit überfallen und erwürgen, so viel er wollte. Von dem angstvollen Geschrei der Ssaigaks wurden die übrigen Tiere herbeigerufen, und als es tagte, überraschten sie den Mörder bei seiner blutigen Arbeit. Alle wehklagten über das unerhörte Unglück, und man verurteilte ihn zur Prügelstrafe, die der Bär an ihm vollziehen sollte. Der Wolf fragte zwar, womit er sich denn in Zukunft ernähren solle, aber er erhielt keine vernünftige Antwort. Man schrie ihm nur einstimmig zu, er solle nie wieder Blut vergießen, sondern sich redlich und ehrenhaft aufführen. Nach vollzogenem Urteil gingen sie jeder nach Hause. Der Wolf aber saß kummervoll und nachdenklich da. »Nein, das ist nicht recht,« sagte er; »dabei kann nichts Gutes herauskommen! Warum setzte man mich Sünder auf die Welt mit diesen Zähnen!« Er richtete sich auf und beschloß, bei dem tapferen Georg sein Recht zu suchen.

»Georg!« sprach er, nachdem er sich verneigt hatte, »ich komme mit einer Bitte zu dir. Ich will essen, und niemand gibt mir, daß ich satt werde. Warum hab' ich Zähne und Klauen, Maul und Magen? Befiehl, daß man mich satt mache, oder ich nehme, was mir vorkommt: Fleisch, Schafe, was es auch sei.«

Der tapfere Georg verwies ihn an seinen Wojewoden, den braunen Stier; der werde ihn satt machen.

Der Wolf ging hin und richtete Georgs Befehl aus, seinen Hunger zu befriedigen. »Nun, so stelle dich einmal dorthin und kehre mir eine Seite zu,« sagte der Stier. Der Wolf tat es. Der Stier schwenkte den Schwanz in die Höhe, riß die Augen auf, machte einen Satz, erfaßte den Wolf mit den Hörnern und warf ihn über sich durch die Lüfte. »Bist du nun satt, wie?« fragte er, als der Wolf, der sich dreimal in der Luft überschlagen hatte, sich am Boden wälzte. Kaum konnte der arme Wolf sich aufrichten, er schleppte sich fort wie eine alte Frau auf Krücken.

Nachdem er drei Tage gebraucht hatte, sich zu erholen, ging er wiederum zum tapferen Georg, um Recht und Gerechtigkeit zu suchen, und diesmal schickte ihn der Held zum wilden Pferd. Das werde ihm Fleisch geben.

Der Wolf begab sich zu einer nahen Pferdeweide. Ein Hengst, mit gespitzten Ohren, brausenden Nüstern, sprang auf ihn los und schlug, noch ehe er zu Worte kam, dermaßen mit den Hinterfüßen aus, daß er kaum Zeit hatte, auszuweichen. Schreiend eilte er zu Georg zurück und klagte über die neue Mißhandlung.

Georg ward zornig auf den Wolf, daß er ihm keine Ruhe ließ. »Du bist ein Vielfraß und möchtest alles um dich her verschlingen. Sieh dir doch die anderen an, wie die sich gesittet betragen und der Obrigkeit nicht zur Last fallen. Marsch, geh zum Ältesten der Schafe und bitte artig, daß man so gut sei und dir etwas zu beißen gebe, aber mich laß in Ruhe, oder ich erkläre dich für einen Ruhestörer[300] und nehme es schriftlich von dir, daß du in Zukunft für nichts mehr Genugtuung fordern willst.«

Als der Wolf zum Schaf-Ältesten kam, befahl ihm dieser, er solle sich an den Band eines steilen Felsens hinstellen und ihm den Rücken zukehren. Der Wolf tat es. Das Schaf aber machte hinter ihm einen Satz und gab ihm einen Stoß mit den Hörnern, daß er hinunterstürzte und wie tot liegen blieb. Bis zur Nacht lag er so; endlich schlug er die Augen auf und stöhnte, bis es hell wurde; dann schleppte er sich mühsam fort und fand sich abermals beim tapfern Georg ein, um sein Recht zu suchen. Dieser sandte ihn zu einer Herde wilder Schweine. Doch es erging ihm nicht besser. Man verdarb ihm seinen grauen Pelz und brachte ihm eine Wunde in der Seite bei. Wieder kehrte er zu Georg zurück, diesmal mit dem Vorsatz, ihn selbst zu verschlingen, wenn er ihm auch jetzt sein bescheidenes Recht weigerte. Georg war guter Laune, klopfte ihm auf den Pelz und befahl ihm, bei den Menschen um Unterstützung zu bitten. »Geh in die nächste Landstadt,« sprach er, »und bitte gute Leute um dein tägliches Brot; bitte aber anständig und bücke dich hübsch und fletsche nicht die Zähne, sträube nicht die Haare empor und benimm dich nicht wie ein wildes Tier!«

»Ach, Vater Georg,« erwiderte der Wolf, »du kennst ja mein Unglück, wie gern würde ich mich bücken, aber mein verdammtes Genick ist ja so steif. Und wie sollen sich meine Haare nicht sträuben? Wenn ich vor Hunger dampfe, so richtet sich mein Haar empor. Gott sei mein Richter, wenn ich dir die Unwahrheit sage!«

»Nun geh nur, geh nur,« sagte Georg, »die Menschen sind ein gutes, mitleidiges Volk, sie werden dir nicht nur hinlänglich zu essen und zu trinken geben, sondern dir auch besser als ich sagen können, wie du dich künftig ernähren sollst.«

Das hörte der Wolf gerne, aber es war ihm doch nicht ganz wohl zumute. Er traute dem Vater Georg nicht mehr recht, er fürchtete, wieder in die Klemme zu geraten. Aber was half es? Der Hunger quälte ihn, und er machte sich auf den Weg. Bei der Landstadt angelangt, lief er in die erste, beste Tür hinein und fand in einem großen Zimmer viele Arbeitsleute, denen er sein Anliegen vortrug; er erzählte, wie er ohne seine Schuld die ganze Welt wie ein Schuldiger durchziehen müsse, wie gerne er nicht sündigen würde, wenn der Magen nicht bellte, daß der tapfere Georg ihn früher nur zum Narren gehalten, jetzt aber endlich sich seiner erbarmt und ihm befohlen habe, sich zu den Menschen zu begeben und sie um Hilfe zu bitten. Die Leute, denen er dies alles vortrug, waren aber Soldaten, denn er war in eine Kaserne geraten, mitten in eine Werkstatt. Die Arbeiter umringten ihn, der Zuschneider selbst warf seine Arbeit weg und wollte sich über den Anblick des Wolfes zu Tode lachen. Nach mancherlei Spaßen kamen alle dahin überein, man wolle dem Wolf den schiefen Taraß schenken. Dieser war in der Werkstatt angestellt, mußte den Schneidern die Bügel heiß machen und Wasser in die Küche tragen und wurde von jedermann zum besten gehalten. Mit lautem Gelächter hetzten sie den Wolf auf Taraß los: »Pack' ihn, das ist ein guter Fraß für dich!« Der Wolf sprang auf ihn zu, und fast wäre der Arme durch diesen schlechten Scherz ums Leben gekommen, aber er flehte den Wolf um Schonung an: »Was hast du davon, wenn du mich jetzt verschlingst? Ich bin nichts als Haut und Knochen, und bald hast du von neuem Hunger. Laß mich lieber los, und ich will dir zeigen, wie du jeden Tag am besten leben kannst. Ich will aus dir einen solchen Kerl machen, daß alles, was lebt, dir von selbst in den Rachen fliegt und du nichts weiter zu tun hast, als ihn nur recht aufzureißen.« Der Wolf überlegte und[301] gab endlich nach. »Mache mit mir, was du willst, aber lehre mich, wie ich satt werde.«

Der schiefe Taraß holte ein Hundefell herbei, wischte seine Nadel am Rockschoß ab und nähte den Wolf in das Fell, das ihm seit dieser Zeit verblieben ist. »Siehst du,« sagte Taraß, »jetzt bist du wie ein ordentlicher Hund, niemand wird vor dir erschrecken, und du kannst dich überall mit Anstand zeigen. Jedermann wird brüderlich mit dir leben, und trittst du in den Wald, so wirst du sehen, wie Schnepfen und Birkhühner dir ins Maul fliegen.« Schon wollte der Wolf seinem Schneider danken, als die anderen Soldaten auf ihn zusprangen und auf den neuen Rock losschlugen, so daß der Wolf mit Mühe ins freie Feld entkam. Zu spät sah er, daß er betrogen war.

Jetzt war er weder ein wildes Tier, noch ein Hund. Die Hunde verleugneten ihn, weil er ihnen zu tapfer war, und wollten ihn nicht in ihre Zunft aufnehmen; wer stärker war als er, hieb auf ihn los und suchte ihm den Garaus zu machen; wer schwächer war, floh ihn, und er, in fremden Stiefeln, was bekanntlich eine verdrießliche Sache ist, konnte oft ein Schaf nicht mehr einholen. Mit einem Wort, jeder beleidigte ihn – als Wolf ward er nicht mehr anerkannt, Recht und Gerechtigkeit wurden ihm versagt, und was das Schlimmste war: vor den Hunden konnte er nirgends Ruhe finden, so daß der arme Wolf weder Wohnung noch Erwerb hatte und sich von jener Zeit an nur von Raub und Diebstahl das armselige Leben fristen konnte, bis ihm einmal die Haut über die Ohren gezogen ward.

Seit jenem Erlebnis setzt der Wolf keinen Fuß mehr zum tapferen Georg und hat alle Sitte und Religion verloren. Sein Leben ist ein wahres Spitzbubenleben und sein Grundsatz: Nimmer bringt ihr mich mehr dazu, mein Recht auf gesetzlichem Wege zu suchen. Macht mit mir, was ihr wollt, aber an der Nase führt ihr mich nicht mehr herum.


  • Literatur: Kletke, Märchensaal 2, 63 ff. (Verkürzt) = Magazin f.d. Literatur des Auslandes, 1836, Nr. 71, 72.

Statt des heiligen Georg ist Gott selbst in folgenden Fassungen eingesetzt:


c) Wenn der Wolf einem Menschen mit einem Stück Vieh begegnet, so brüllt er sofort, – er fragt nämlich Gott, ob er dieses erwürgen darf, – und wenn nicht, so macht er sich fort.

Es ging ein Mann irgendwohin, zu Gott zu beten, und legte sich auf dem Berge schlafen, wo die Wölfe Gott um Fraß bitten; da sieht er: es sind viele Wölfe zusammengelaufen, haben die Köpfe nach oben gerichtet und heulen. Da ruft jener Mann in der grauen Mütze: »Guten Tag, meine Herde!« Jene hörten auf zu heulen und fragten: »Dürfen wir jenen Menschen verzehren, der hier schläft?« – »Nein, das geht nicht, er geht, um zu Gott zu beten, er wird auch für euch beten; lauft lieber in jenes Dorf und stehlt ein Lamm und auch eine Kuh, dann werdet ihr satt.« Die Wölfe liefen auseinander, jener Mensch aber ging weiter.


  • Literatur: W.N. Jastrebow: Materiali po ethnographii Noworossijskago kraja S. 11.

[Ebd. folgende Variante:


Noch vor Adam hatte Gott ein jegliches Tier und Rindvieh geschaffen, ebenso das Schaf, es war aber niemand da, sie zu weiden; da fand der Wolf zwei, ein Lämmchen und ein Böckchen, bewachte sie ein Jahr, das zweite, besorgte auch den[302] Nachwuchs und fraß ihn nicht, denn er sagte: »Mögen es ihrer mehr werden, ich hin noch jung und werde irgend was Wildes fangen.« So hatte sich eine ganze Herde entwickelt. Wie dies Adams Sohn Abel sah, jagte er den Wolf mit seiner Sippe weg und eignete sich die Schafe an. Daher kommt es, daß, wenn der Wolf in eine Herde einbricht, man es ihm nicht verweigern kann, denn er nimmt das Seinige.]


d) Der Wolf kommt zu Christus mit der Frage: »Was soll ich essen?« Christus schickt ihn zur Stute. Diese aber gibt ihm einen Schlag mit dem Hinterfuß. Der Wolf kehrt zu Christus zurück, und dieser schickt ihn zum Hammel, aber der Hammel stößt ihn mit den Hörnern. »So komm,« sagt Christus, »du sollst einen Schneider aufessen.«

[Es folgt dann die oben S. 43 mitgeteilte Sage: Afanasiev, narodn. russk. legendy Nr. 32 = Gerber, Animal tales.]


e) Es war einmal ein Wolf, der war so arm, daß er beinahe vor Hunger gestorben wäre; nirgends war etwas zu erjagen. So machte er sich zu Gott auf, ihn um Nahrung zu bitten. »Gnädiger Gott,« sagt er, »gib mir was zu essen, sonst komme ich vor Hunger um.« – »Was willst du essen?« fragt Gott. – »Was du gibst, das gib.« – »Dort auf der Wiese grast die Stute des Dorfpriesters, – sie wird nicht weglaufen, – die friß!«

Da eilt der Wolf schnell hin und ruft der Stute zu: »Guten Tag, Stute! Gott hat gesagt, ich soll dich fressen.« – »Wer bist du denn, daß du mich fressen willst?« – »Der Wolf,« sagt er. – »Du faselst – ein Hund!«

»Bei Gott,« sagt er, »ein Wolf!« – »Nun. wenn du der Wolf bist – von wo fängst du denn an, mich zu fressen?« – »Vom Kopf,« sagt er. – »I, Wölfchen,« sagt sie, »Wölfchen! Wenn du schon beschlossen hast, mich zu fressen, so fang doch vom Schwanz an; so lange bis du zur Mitte kommst, werde ich weiter grasen und satt werden, dann wirst du etwas Gesättigtes fressen.« – »Was recht ist, ist billig,« sagt der Wolf und springt an den Schwanz. Wie er sie am Schwanz zerrt, schlägt plötzlich die Stute hinten aus und trifft ihn mit den Hufen ins Maul, daß er nicht mehr weiß, ob er auf dieser oder auf jener Welt sei. Die Stute aber macht einen Sprung, daß der Staub aufwirbelt. Da sitzt nun der Wolf da und denkt sich: »Wie bin ich doch erbärmlich dumm! – Warum faßte ich sie nicht am Hals!« So eilt er wieder zu Gott, Nahrung zu erbitten. »Gnädiger Gott,« sagt er, »gib mir doch ein wenig zu essen, sonst sterbe ich vor Hunger.« – »Was?« sagt er, »ist dir die Stute zu wenig?« »Ja,« bellt er, »ich soll ihr wohl das Teil lebend herunterziehen! Ich habe nicht nur nicht satt gegessen, sondern sie hat mich, beinahe ganz zerschlagen.« – »Nun, wenn es so ist,« sagt Gott, »so geh', dort unter der Anhöhe weidet so ein satter Schafbock, den kannst du fressen.« Der Wolf geht. Der Bock weidet unten am Hügel. – »'n Tag, – Gott sagt, ich soll dich fressen.« – »Wer bist du denn, daß du mich fressen wirst?« – Sagt er: »Der Wolf!« – »Du faselst – ein Hund!« – »Nein, bei Gott,« sagt er, »der Wolf.« – »Wenn du also der Wolf bist, wie wirst du mich fressen?« – »Wie werd' ich dich fressen! Vom Kopf an und dann alles durch – nicht wahr!« – »1, Wölfchen,« sagt er, »Wölfchen! Wenn du schon mich fressen willst, so stelle dich besser auf diesen Hügel und sperr's Maul auf, ich werde dann selber hereinspringen; stelle dich hin.« So stellt sich der Wolf gerade über dem Hügel auf, – solch ein Hügel! – sperrt das Maul auf und denkt sich schon: ein guter Bissen! Der Bock nimmt einen Anlauf und stößt ihn in die Stirn, der Wolf fallt pardauz! in die Grube. Da sitzt der arme Schelm und weint: »Wie bin ich doch[303] erbärmlich dumm! Hat man je gesehen, daß das Fleisch einem selbst in den Mund springt?«

Er grübelt und grübelt. So kommt er wieder zu Gott, um Nahrung zu bitten. »Gnädiger Gott!« sagt er, »gütiger Gott! Gib irgend etwas zu essen, sonst sterbe ich vor Hunger!« Gott sagt: »Bist du aber ein Esser! Soll dir das Fleisch selbst in den Mund springen? Ach, was ist mit dir zu reden! Geh, dort hat ein Mann Speck auf der Straße verloren – es sei dein!« Er hört dies, geht zu der Stelle, – da liegt der Speck. Er kostet ihn und denkt: »Schön, ich werde ihn aufessen, aber er ist doch salzig – ich werde trinken wollen ... Ich werde zuerst trinken und dann erst essen.« Während er zum Bächlein ging, hatte sich jener Mann umgesehen, und da kein Speck da war, war er umgekehrt, wo er denn wäre, und hatte den Speck gefunden. Unterdes kam der Wolf zurück – der Speck ist nicht da. Da setzt er sich hin und weint: »Wie bin ich doch erbärmlich dumm! Wer hat wieder nicht gegessen? Ich!«

Er sitzt und klagt: »Wenn's nur was zu essen gäbe, ach, ach, ach ...!« Er geht wieder um Nahrung zum Herrn. – »Gott, du gnädiger Gott, du barmherziger! Gib, was du gibst, sonst lebe ich nicht lange!«

»Ja, was soll ich dir denn noch sagen! Geh' hin, dort unweit vom Dorfe ist ein Schwein, das kannst du fressen!« – Er kommt dort an. – »'n Tag, Schwein!« – »'n Tag.« – »Gott hat gesagt, ich soll dich fressen.« – »Wer bist du denn, daß du mich fressen wirst?« – »Der Wolf.« – »Du faselst – ein Hund!« – »Nein,« sagt er, »ein Wolf!« – »Gibt es denn für den Wolf nichts zu fressen?« – »Nichts,« sagt er. – »Wenn nicht, so setze dich auf mich, ich trage dich ins Dorf. Bei uns wird jetzt die Behörde gewählt – vielleicht wählt man dich.« – »Was gut ist, ist gut! Trag mich hin!« – Er setzt sich aufs Schwein, das kommt ins Dorf gelaufen und fängt plötzlich an zu schreien. Der Wolf erschrickt: »Was schreist du?« sagt er. »Das ist, damit man dich sicherer zum Oberhaupt erwähle.« Jetzt kommen nun die Leute aus den Häusern gestürzt mit Feuerhaken, mit Schaufeln, mit Knüppeln, was ein jeder nur ergreifen kann. Dem Wolf steht der Atem still, so erschrickt er. Und er raunt dem Schwein zu: »Sag, was rennt das Volk so?« »Ja natürlich,« antwortet dieses, »nur für dich.« Wie die Leute den Wolf erblicken, fangen sie an, ihn zu prügeln, daß es ihm gar übel wird: er kann kaum noch lebend entwischen.

Er reißt aus – gerade zu Gott. »Gott, du gnädiger! Gott, du barmherziger! Gib mir nur ein ganz klein wenig zu essen, sonst ist mein Ende nahe.« Gott sagt: »Geh, dort geht ein Bursch – überfalle ihn und sättige dich.« Sofort macht er sich auf. Er trifft ihn auf der Landstraße. »Guten Tag, Mann!« – »Guten Tag!« – »Gott hat gesagt, ich soll dich fressen.« – »Wer bist du denn, daß du mich essen wirst?« – »Der Wolf.« – »Du lügst – ein Hund.« – »Nein,« sagt er, »bei Gott, ein Wolf!« – »Du scheinst mir aber gewaltig groß zu sein, ich will dich mal messen.« Da ergreift der Mann den Schwanz und fängt ihn an zu drehen – er mißt und mißt ihn – der Wolf kann kaum noch atmen, jener aber setzt noch immer sein Messen fort. – »Ein Arschin!« (Meter), und er fährt fort, so daß ihm schließlich der Schwanz in der Hand bleibt. Der Wolf kratzt aus, aber nicht mehr zu Gott, sondern zu den anderen Wölfen. »Wölfchen, Brüderchen! So und so geht es mir schlecht!« Die beginnen nun hinter dem Burschen herzujagen. Wovor sollen sie sich denn fürchten? Jener sieht – es ist schlimm! Da steht ein Baum. Er läuft auf-den Baum zu und klettert bis zum Gipfel. Die Wölfe aber umringen den Baum und fletschen nur so die Zähne. Der Wolf aber sagt: »Nein,[304] Brüder – dabei kommt nichts heraus. Wir wollen es so machen: ich stelle mich auf die Erde, ihr aber auf mich – einer über den anderen; auf diese Weise kriegen wir den Teufelskerl.« Es stellt sich einer auf den andern, da ruft der oberste: »Aber nun steig herunter, Teufelssohn, wir werden dich fressen!« »O,« ruft der Bursch, »Brüderchen, Wölfchen, habt Erbarmen, freßt mich nicht!« – »Nein, es geht nicht. Komm herunter!« »Wartet nur,« sagt er, »ich werde zur Gelegenheit des Verderbens meiner Seele etwas Tabak schnupfen.« Er beginnt zu schnupfen – und niest – hatschi! Dem unteren aber scheint es, daß der Bursch den oberen schon wieder mißt und »Arschin!« ruft, und er duckt sich – und die Wolfe fliegen nun alle herunter. Er reißt aus, was er kann! Die anderen Wölfe hinter ihm, fassen ihn und zerreißen ihn. Der Mann aber steigt dann vom Baume herunter. »Ich danke dir, Gott, daß du eine Christenseele nicht dem grausamen Getier überlassen!« Er geht nach Hause, wohnt mit seiner jungen Frau und ißt schöne Pfannkuchen.

Ich war da, trank Met und Wein, über den Bart floß es mir, aber in den Mund kam nichts.


  • Literatur: [Gouv. Poltawa.]
    J. Rudčenko, Skaski 1, 1–4, Nr. 1.

Auch in einer polnischen Sage bestimmt Gott dem Wolf die Nahrung. Er wird aber schlecht behandelt. Die nach der üblichen Schlußwendung zu erwartende Folge; daß der Wolf nunmehr zu rauhen anfängt, tritt nicht ein.


Als Gott aller Kreatur die Nahrung bestimmte, war der Wolf am begierigsten auf das, wovon er sich nähren solle. Als der Herr zu ihm sagte: »Du wirst säen und ackern,« unterbrach er ihn: »Und jetzt will ich essen.« »O nein, mein Wolf, zuerst wird es wachsen, und du wirst das Gereifte mähen.« Aber der Wolf sprach wiederum: »Und jetzt werd' ich essen.« »O nein! Zuerst muß man die Garben mit Strohseil binden, trocknen lassen und in die Scheune fahren.« Der Wolf aber rief: »Und jetzt werd' ich essen.« »O nein! Zuvor mußt du dreschen und dann das Getreide in der Mühle mahlen.« Der Wolf wollte das Ende nicht abwarten und sagte dem lieben Gott, daß er sich für ein solches Leben bedanke. »Wenn du nicht einverstanden, bist,« sagte Gott, »so geh und iß die Stute, die mit dem Füllen auf der Weide ist.« Der Wolf ging zur Stute, aber sie verbarg ihr Füllen unter sich und fletschte die Zähne gegen den Wolf. Und als er sie von hinten angreifen wollte, gab sie ihm mit den Hinterbeinen einen kräftigen Denkzettel. Als der Wolf zu Gott zurückkehrte und ihm die Sache berichtete, befahl Gott ihm, den weidenden Hammel zu essen. Als der Hammel hörte, daß der Wolf ihn auf Gottes Geheiß essen solle, sagte er: »Iß mich wenigstens auf einmal auf.« Der Wolf stellte sich also mit weitgeöffnetem Rachen auf, und als der Hammel einen kräftigen Anlauf nahm, prallte er so heftig gegen ihn an, daß der Wolf kaum in zwei Stunden wieder zu sich kam. Inzwischen entfloh der Hammel. Als der Wolf schließlich wieder zu sich kam, wußte er nicht mehr, ob er den Hammel gefressen hatte oder nicht.


  • Literatur: Wisła 1892, 142 f.

Auch in zwei französischen Sagen wird der Wolf mit Gott in Verbindung gesetzt.


a) Als Gott den Wolf geschaffen hatte, um die Hirten zu zwingen, besser auf ihre Herden zu achten, hatte dieser einen Schwanz, der war mehrere Meter lang. Die[305] Hirten wickelten ihn um einen Baum, so daß er sich nicht mehr von Schaffleisch nähren konnte. Da klagte er es Gott, der seinem Schwanz darauf die gewöhnliche Länge gab.


  • Literatur: Sébillot, Folklore 3, 7 f. = Revue des trad. pop. 17, 56.

b) Gott sah, daß die Hirten die Schafe das Getreide fressen ließen, stieß mit dem Fuß auf einen Klumpen Erde und ließ daraus den Wolf hervorgehen.


  • Literatur: Sébillot, Folklore 3, 5.

Fußnoten

1 Hierher gehört folgende Sage der Chewsuren:

Einstmals verfolgte der hl. Georg Teufel, die [seine?] Herde forttrieben; es gelang ihm, sie einzuholen. Er brachte die Herde zurück und befahl seinem Hetzhund, sie zu hüten. Selbst ging er fort, aber der Hund bewachte die Herde. Darum wird dem hl. Georg zweimal geopfert, dem Hunde aber einmal.

In einer Variante kriecht der heilige Georg in den Mund eines Pferdes, das ihn ungesehen zu den Teufeln hinträgt.

Veselovskij, Razyskanija II (Abhdl. der Abt. f. russ. Sprache und Lit. der Kais. Akad. d. Wiss. 21, 2, 60, 1881. Aus Radde, Die Chewsuren. Kassel 1878, S. 110 f.).


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 306.
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