IV. Verschiedene Stimmdeutungen.

[366] Die von der Sage behauptete Ähnlichkeit zwischen Vogelgesang und menschlicher Rede findet sich ohne das Motiv des Erlernens in folgenden Stimmdeutungen.


1. Aus Frankreich.


a) Die Nachtigall singt während der Nacht, weil sie früher einmal auf einem Zweig eingeschlafen war, um den sich eine Waldrebe (Clematis vitalba) rankte.[366] Die Ranken dieser Pflanze kletterten während der Nacht und verwickelten ihr die Füße so, daß sie nicht fortfliegen konnte. Um nun zu vermeiden, daß sie wieder so festgehalten wird, singt sie: »dormiraï pu, pu, pu, pu ... me toursounaïo la vique = je ne dormirai plus ... m'entortillerait la vigne« (ich werde nicht mehr schlafen, sonst würde mich der Weinstock umschlingen).


  • Literatur: (Aus Périgord.) Rolland, faune populaire 2, 270 = flore populaire 1, 11 = La Tradition 18, 275. Dasselbe ohne den Wortlaut des Nachtigallenschlages bei Desaivre, Croyances, présages etc. p. 26 (aus Echiré) Pineau, Revue des trad. pop. 5, 571 (aus Poitou), Poumarède, Manuel des termes usuels 1860, p. 313 = La Tradition 18, 276 = Swainson, British Birds p. 20 (aus Toulouse; die Pflanze ist dort tamnus communis).1

b) Eines Abends schlief die Nachtigall auf einem Weinstock. Während des Schlafes wickelten sich die Banken um ihre Füße, und bei Tagesanbruch fand sich der Vogel gefangen.

Da die Weinrebe so gefährlich ist, sagte sie sich: »Solange der Weinstock treibt, wird die Nachtigall nicht schlafen!«

Und seitdem singt die Nachtigall, während der Weinstock treibt, die ganze Nacht, um sich wach zu halten:


»Vign', pouss', pouss', pousse,

vit, vit, vite!«


  • Literatur: (Aus Nivernais.) Revue des trad. pop. 7, 171.

c) Als die Nachtigall einmal sehr lange geschlafen hatte, hatten sich ihre Füße in den Ranken des Weinstockes verwickelt. Seit der Zeit schläft sie nicht mehr, solange der Weinstock treibt. Dem Winzer ruft sie zu: »teille vite, teille vite, que peuille dormir!« (schneide schnell, schneide schnell, damit ich schlafen kann). Später singt sie mit sanfterer Stimme: »vigneron, tai veigne pousse, pousse, pousse ... dans lou beuchet, dans lou bouchet.«


  • Literatur: Aus der Franche-Comté: Rolland, faune pop. 2, 270 = Perron, Proverbes de la Franche-Comté = La Tradition 18, 276.

d) Dieselbe Erzählung, doch kommt ein anderer Vogel und befreit die gefangene Nachtigall. Eingedenk der Gefahr, der sie entronnen ist, schläft sie nachts nicht mehr und singt:


»M'i pausarèi plus, plus, plus

Sus la ramo de vit!«

(Je ne m'y poserai plus, plus, plus

Sur la rame de vigne!)


[367] oder:


»La vinho pousso, la vinho pousso, la vinho pousso!

Jou voli plue m'endroumi!«

(La vigne pousse ... je ne veux plus m'endormir).


  • Literatur: Aus Agenais: La Tradition 18, 276.

e) [Erzählung fehlt.] Die Nachtigall singt:


»Droumirèi plus, plus, plus, plus, plus, plus sus

l'aubre de la vinho!« (Je ne dormirai plus, plus ...

sur l' arbre de la vigne!)


  • Literatur: Aus der Gascogne: La Tradition 18, 276.

f) [Erzählung fehlt.] Der Ruf lautet:

»Pi, pi, pi! garo la bitz! Txou, txou, txou! garo la fourmic!« (Pi, pi, pi! gare la vigne! Txou! txou! txou! gare la fourmi!)


  • Literatur: Aus Caorsin: La Tradition 18, 276.

In diesem Zusammenhang ist folgende mingrelische Sage aus dem Kaukasus anzuführen:

Für irgendeine Sünde, die niemand bemerkt hat und von allen vergessen ist, muß die Nachtigall die ganze Nacht hindurch wachen oder verbringt die Zeit mit Gesang.


  • Literatur: Sborn. mater. 32, 3, 117.

2. Aus Luxemburg.


Nach der Überlieferung soll die Wachtel einst Dienstleistungen beim lieben Gott versehen haben. Während großer Dürren, wenn kein Wasser mehr im Himmel war, holte sie ihm welches herauf. Dieser Dienst machte sie stolz und trotzig. Eines Tages, als es lange nicht geregnet hatte, litt Gott an Durst. Die Wachtel schwang sich träge in die Lüfte, weigerte sich aber, Wasser hinauf zu bringen: sie tat so, als stiege sie sehr hoch empor. Dann ließ sie sieh wieder zur Erde herab und wiederholte unaufhörlich den Fluch: »Sacré Dieu, sacré Dieu!« Endlich zeigte Gott seinen Zorn und entzog dem trotzigen Vogel seinen Botentitel und gab ihn einem anderen, sehr zierlichen Tiere, welches seitdem seine Dienste mit der größten Pünktlichkeit versieht. Dies ist der Marienkäfer, welcher seitdem den Namen »Tier des lieben Gottes« angenommen hat. Seitdem hört die Wachtel nicht auf, den Himmel mit ihren Klagen zu erfüllen. Man sieht sie in der schö nen Jahreszeit sich unablässig in die Lüfte erheben; sie steigt, so hoch sie kann, und bittet Gott um Verzeihung mit den Worten: »Mei leiwe Gott, mei leiwe Gott, ech fluche mei Leiwe net me!« Aber sie kommt nicht mehr bis zu Gott, denn kaum ist sie in den Wolken verschwunden, so stürzt sie sich wieder zur Erde und nimmt dann wieder ihren lästernden Fluch auf: »Sacré Dieu, sacré Dieu!« Sie erhebt sich wieder und beginnt ohne Unterlaß, aber ohne Ergebnis, dasselbe Spiel, indem sie um Verzeihung bittet, wenn sie emporsteigt, und flucht, wenn sie sich herabläßt.


  • Literatur: Revue des trad. pop. 12, 329, Nr. 5.

Vgl. Natursagen 2, 234 und Revue des trad. pop. 5, 571 (aus Poitou):


Wenn die Lerche in die Luft steigt, singt sie: »Dieu me tire en sus, l'bon dieu me tire en sus, je n'jurerai plus.« Wenn sie sehr hoch gekommen ist, kommt sie plötzlich herunter und singt dann: »Malouette, malouette, malouette.«[368]


Ferner Lerchis-Puschkaitis 5, Nr. 28 (aus Nordwestl. Kurland):


In der Doppelschnepfe (Becassine) wohnt die Seele einer alten Jungfer, die zu Gott kommen möchte. Der stößt sie aber jedesmal zurück (es wird dies aus der Art, wie sich der Vogel schnell zur Erde senkt, gefolgert). Dazu stimmt die Deutung ihres Liedes: »Ich werde und ich werde in den Himmel kommen – zurück bērrks!« (tikschu, tikschu debēsis – at pakal bērrks!)


3. Vlämische Sagen.


a) Der Grünfink hatte ein Wirtshaus; die Wachtel trank bei ihm ein Kännchen. Aber als es ans Bezahlen ging, hatte sie kein Geld und wollte sich sacht wegschleichen. Der Grünfink aber hatte es jedoch bemerkt, packte die Wachtel rasch am Schwanz und zog und zog. Die Wachtel machte Anstrengungen, sich loszureißen, und riß so lange, daß ihr Schwanz in den Händen des Grünfinks blieb. Seitdem haben die Wachteln keinen Schwanz mehr, und der Grünfink ruft: »Het geld van mijn bier, het geld van mijn bier!« Die Wachtel aber klagt: »Kwit – kwi – dit! Wat spijt mij dit, wat spijt mij dit!« (Was ärgert mich das, nämlich daß der Schwanz abgerissen ist.) »Kwit – kwi – dit!«


  • Literatur: Cornelissen-Vervliet, Vlaamsche Volksvertelsels, S. 227.

b) Die Wachtel, die ehedem einen langen Schwanz hatte, die Elster, die schneeweiß aussah, und die Krähe, die ebenfalls nicht schwarz war, kommen an einem Aschermittwoch in angeheitertem Zustande zum Grünfink in dessen Wirtshaus und trinken dort weiter, bis sie nur noch lallen können. Als nun keiner von ihnen bezahlen will, schlägt der Grünfink mit dem Besen drein. Die Wachtel will zur Tür hinaus, wird aber noch beim Schwanz gepackt, doch die Federn bleiben in der Hand des Grünfinks, und die Wachtel rettet sich ohne ihn aufs freie Feld. Die Elster will durch das Fenster fliegen, fällt aber ins Kohlenbecken und kommt schwarz wieder heraus. Die Krähe fliegt zum Schornstein hinaus und ist auch schwarz. Seitdem sehen die drei so aus, wie sie damals geworden sind, und der Grünfink singt nicht anders als: »Ik wil 't geld van mijn bier, ik wil 't geld van mijn bier.« Die Wachtel aber antwortet: »Wat sjert me dit, wat sjert me dat! (Was schiert das mich!) Gij trokt mijnen steert weit uit mijn ...!«


  • Literatur: Mont en Cock, Vlaamsche Vertelsels, S. 91 (gekürzt). Aus Wambeck bei Ternath = Volkskunde 2, 66. Var. aus Cappellebroek (Franz. Flandern) bei Leopold, Van de Scheide tot de Weichsel soll im wesentlichen übereinstimmen.

c) Fink und Wachtel kommen zum Grünfink ins Wirtshaus. »Baas, tapt een' kanne bier« (Meister, zapft eine Kanne Bier), sagt der Fink. – »Met plezier! met plezier! zet u, u, u!« (setzt euch). – Danach geht es wieder: »Drink et uit en tapt e nieuw!« Zuletzt kommt Rotkehlchen, das damals ein Holzhändler war, am Fenster vorbei und bietet sein feines Reisholz feil. Der Fink läuft ihm nach und kommt nicht wieder. Die Wachtel hat kein Geld. Beim Wegfliegen verliert sie den Schwanz.


  • Literatur: Mont en Cock, ebd. S. 93 Anm. = Rond den Herd 4, 212, 8, 335.

d) In das Wirtshaus des Sperlings kommen Amsel und Pirol. »Baasken, tap een' kanne bier!« sagt die Amsel. »Tap er drie en drink een mee,« sagt der Pirol. »De suite, de suite,« erwidert der Sperling, der in Frankreich gewesen ist. Die beiden können aber nicht bezahlen und wollen dann in Gemeinschaft mit dem Sperling so lange trinken, bis dieser die Kellerstufen hinabstürzt. »Drink het uit en tap nog eén,« sagt die Amsel. »Ga in den kelder en breek uw been!« sagt der Pirol.[369] Wirklich bricht der Sperling die Beine. Seitdem hüpfen die Sperlinge und rufen: »De suite, de suite!« Amsel und Pirol rufen noch immer: »Drink het uit en schenk nog éen; ga in den kelder en breek nw been


  • Literatur: Mont en Cock, ebd. S. 94 (Aus Ternath) = Volkskunde 2, 67.

e) Der Grünfink, der ein Gasthaus hat, leiht dem Specht drei Krüge Bier; dieser gibt sie nicht wieder (vgl. Kap. 4). Sooft nun der Getäuschte den Specht sieht, ruft er: »Ik kom om't geld van mijn bier!« Der andere aber antwortet: »Ge hebt het gehad! Ge hebt het gehad!«


  • Literatur: Joos, Vertelsels 1, Nr. 8.

f) Die Schwalben hatten einmal so viel Schulden gemacht, daß sie ihre Häuser räumen und eine andere Wohnstätte suchen mußten. Sie versammelten sich auf dem Kirchdach und kamen überein, ihre Nester an die Sperlinge zu verkaufen. Und um recht viele Käufer anzulocken, gewannen sie den Hahn, vom Kirchstein herab ihre Absicht zu verkündigen. Am Sonntag nach dem Hochamt stand Meister Hahn in voller Hoheit auf dem Kirchstein und las den Verkaufsbeschluß vor. Und als er zu Ende gelesen und gekakelt hatte, schlug er noch einmal mit den Flügeln, reckte sich und rief: »Elk, elk, elk ... elk zegge 't voort!« (Jeder sag's weiter!) Und der Hahn des nächsten Hofes sagte es weiter, und alle folgenden Hähne auch. Und seitdem sagen's die Hähne noch immer weiter, und die Schwalben verlegen ihre Wohnungen alle Jahre aufs neue.


  • Literatur: Mont ęn Cock, ebd. S. 78 (Westflandern).

g) Schwalbe und Häher (garrulus glandarius) gehen im Herbst zur Amsel, dem Advokaten, und fragen ihn um Rat, wie sie sich im kommenden Winter zu verhalten hätten. Der rät der Schwalbe, je eher, je besser nach dem Süden abzureisen und im Frühjahr wiederzukommen. Dem Häher rät er, alle Tage Eicheln zu sammeln und in einer hohlen Weide zu verstecken. Der Häher und sein Weib sammeln nun, bis sie ein ganzes Loch einer alten Weide gefüllt haben, und jedesmal, wenn sie beim Suchen einander begegnen, rufen sie: »'s ist schon ganz voll?« ('t zit al reis om reis, wörtl.: Reis um Reis, d.h. bis an den Rand [des Loches]) und: »'s ist rasch ganz voll!« ('t zit haast reis om reis). So sitzen denn nun die Häher in den Bäumen, unweit ihres Vorrates, und singen von früh bis abends: »'t zit al reis om reis!« Und im Winter, wenn andere Vögel frieren und hungern, rufen sie nur immer: »'t zit nog rrrreis om rrrreis!« Die Schwalben aber fliegen vor dem Winter nach Süden.


  • Literatur: Mont en Cock, ebd. S. 79.

4. Aus Dänemark.


Die Elster macht sich lustig darüber, daß die Katze sie nicht erreichen kann. Sie fliegt so hoch hinauf, daß sie sich sicher weiß, und indem sie auf die Katze hinabschaut, ruft sie: »Kjik-op, kjik-op, hahaha!« (Bornh. Dialekt: Guck hinauf!)


  • Literatur: Skattegraveren 4, 75, Nr. 222.

5. Aus Schweden.


a) Die Ringeltaube kam zu einer Frau (»hustru«), die im Begriff war, Käse zu bereiten. Sie bat um ein wenig Käse. Das Weib, welches Heuernteschmaus haben sollte, schlug es ihr ab. »Ja,« sprach die Taube, »so werde ich alle Tage sitzen und dich ausschmähen.« Darnach flog sie in den Wald und fing an zu rufen.


»Hu-stru, hu-stru,

Stör ... har du.«


[Groß ... hast du; es muß wohl ein unartiges Wort hier ausgelassen sein.]

[370] Das Weib wollte sie bestechen und warf ihr einen Käse zu, welcher auf dem Flügel der Taube fest sitzen blieb, und noch sieht man den weißen Fleck an ihrem Flügel. Bis auf den heutigen Tag wird noch die Taube in Vestra Småland »hustru dufva« genannt.


  • Literatur: Cavallius, Wärend 2, XXVIII.

b) Man erzählt, daß die Elster, da die Welt noch ganz jung war, fünf Eier von der Waldtaube weggenommen hatte; seitdem ist große Feindschaft zwischen diesen Vögeln, und sobald die Taube eine Elster gewahr wird, ruft sie: »hu hu hu, du du du, som tog mina sju, sju, och blott lemnade mina tu tu!« ([Sodermanland] = du, die du meine Eier nahmst und mir nur zwei überließt!)


c) »Du du, som tagit bort mina sju sju ock lagt dit dina tu tu« oder »ock gifvat mig dina rutna (faule) tu tu.« (Roslagen.)


d) »Du du tog sju ock ga mä tu!« (Jäntland.)


  • Literatur: De Svenska Landsmålen, V. 5. 158 u. 270.

6. Aus Estland.


Früher, als die Vögel wie Menschen reden konnten, hat auch die Krähe nicht gekrächzt wie jetzt. Einst faßte die alte Krähe den Entschluß, auf die Freite zu gehen, und hatte sich ein schönes Lieb ausersehen. An einem Donnerstag abend machte sich der Freier zurecht, zog sich graue Hosen, hohe schwarze Stiefel und einen schwarzen Frack an, nahm noch seinen Vetter, die Elster, mit und fuhr auf die Freite. Seine Werbung ward angenommen und bis spät an den anderen Morgen gefeiert. Als sie aufbrachen, fragte die Braut, ob er sie auch würde ernähren können. Stolz wies der Freier auf die Kornschober auf dem Felde, das alles sei sein, sie brauche nur zu essen. Die Hochzeit ward gefeiert und das Heim auf einer hohen, krausen Birke gegründet. Die erste Zeit ward eine sehr glückliche, aber als der August zu Ende ging, wurden auch die Kornschober immer weniger, bis sie im November auch wirklich nur knapp das tägliche Brot noch hatten. Ein paar Schober standen noch, wovon sie täglich aßen. Eines Tages, als das Krähenmännchen ausgegangen war und seinem Weibchen noch angesagt hatte, es solle auf das Korn aufpassen, kam ein Holzknecht und führte das Korn bis auf die letzte Garbe fort. Voll Verzweiflung schrie Frau Krähe nach ihrem Mann: »Jaak, Jaak, fort wird es geführt mit zwei weißen Pferden!« Auf ihr Geschrei eilten alle Krähen herbei, und alle schrieen: »Jaak, Jaak!« Aber Jaak erschien nicht. In ihrer Herzensangst vergaßen sie ihre gewohnte Sprache und behielten diesen Schrei als ihr ewiges Lied bei.


  • Literatur: Aus dem hdschr. Nachlaß von J. Hurt.

7. Aus Finnland.


Das Schneehuhn ruft noch immer: »Kopek, kopek, kopek!« Es schimpfte einst einen Herrn – ich weiß nicht mehr, ob dieser betrunken war, oder was mit ihm los war – und es rief: »Ko-Pek, Ko-Pek, Ko-Pek, fort den Bart, fort den Bart!« (Pek für Pekka == Peter.) Darum sagt man noch heutzutage, daß einer schimpft wie einst das Schneehuhn den betrunkenen Herrn.


  • Literatur: Frdl. Mitt. von Herrn Prof. Krohn.

8. Russische Sagen.


a) Als die Gemeinde bei Gott anfragte, welches Vieh einen Hirten brauche, gab Gott dem Rindvieh einen, den Schafen usw. Da kam auch der Hahn und bat: »Gib mir auch einen!« Gott sagte: »Du brauchst keinen, geh hin, wohin du willst!«[371] Der Hahn aber bat noch, einmal: »Gib mir das schriftlich, o Herr!« »Das brauchst du nicht, geh nur ohne Bescheinigung!« Da ging er von Gott zum Menschen auf die Saat. Dieser hatte aber gerade frisch gesät; als er den Hahn kommen sah, drohte er ihm mit dem Stock: »Hoho!« Da rief der Hahn: »Ottotototo« (russ. ott-togo-to, d.h. »das kommt davon« sc., wenn man keine Bescheinigung hat).


  • Literatur: Ethnograph. Sbornik 1, 24.

b) Der Falke legte ein Ei in das Nest der Krähe, und die Krähe brütete einen Falken aus. Sie fütterte ihn, und voller Freude über ihn rief sie aus: »Pan, Pan!« (Herr, Herr!) Als aber die Krähe von einem Ausfluge nach Fut ter nicht zurückkehrte, spürte der Falke starken Hunger, und wie nun die Krähe herbeiflog, packte er sie und zauste sie. Die Krähe riß sich aber los und rief: »Kat, kat!« (Henker! Henker!)


  • Literatur: Čubinskij, Trudi 1, 63.

c) Die Krähe fing einen Krebs. Der Krebs wollte sich befreien und fing an zu bitten: »Krähchen, Mütterchen, laß mich! Ich werde dir eine Pelzjacke nähen. In Moskau war ich, für Dohlen näht' ich.« Er wand sich hin und her und war pardauz! im Wasser. Und die Krähe ruft noch jetzt am Wasser: »Portnoj, portnoj, Šivalka, šivalka!« (Schneider, Schneider! Näher! Näher!(?))


  • Literatur: Ethnograf. Sbornik VI (1864) Abt. 1, S. 124.

9. Polnische Sage.


Im Paradiese ist ein Hahn mit goldenem Gefieder. Wenn Mitternacht naht, öffnet sich der Himmel, die Funken sprühen, und der Paradieshahn beginnt zu krähen. Wenn die irdischen Hähne dies Krähen hören, erwachen sie, indem sie die Flügel mit Funken besät haben, beginnen mit den Flügeln zu schlagen, und einer ruft dem andern zu: »Warst du im Paradies?« Wenn der Hahn einmal ein Ei legte, so würde daraus der Antichrist ausgebrütet werden.


  • Literatur: Zbiór wiad. do antr. kraj. 7, 111, Nr. 14.

10. Huzulische Variante.


Im Meere wohnt ein Hahn, der nach Mitternacht zu allererst kräht. Ist dies geschehen, so fühlen alle Hähne auf der Erde alsbald unter den Flügeln ein Kitzeln und beginnen ebenfalls zu krähen.


  • Literatur: Kaindl, Die Huzulen, S. 104.

Diese Sage ist muslimischen Ursprungs. In einer Legende der Moriscos, in der Mohammed von seiner Himmelfahrt erzählt, heißt es, daß er auch den Thron Gottes gesehen habe. Unterhalb des Thrones befanden sich vier Engel, das Aūgesicht des einen war wie das eines Hahnes, und zwar deshalb, weil man ohne ihn die Stunden des Gebets nicht wüßte. Denn er lobpreist Gott in jeder dieser Stunden, und zugleich ruft er aus: »Gedenket Gottes, o ihr Gedankenlosen« (arabisch: Odcuru'llah ja gafilin). Und ihn hören die Hähne der Erde, und sie rufen dann auch, und wenn er aufhört, schweigen auch sie.


  • Literatur: Grünbaum, Neue Beiträge, S. 284 = Leyendas Moriscas sacados de varios manuscritos existentes en las Bibliotecas nacional, real y de D.P. de Gayangos, por F. Guillén Robles (3 Bände 1885–86) II, p. 269 ff.

[372] Der himmlische Hahn wird auch bei Kazwînî, Damîrî und Alkisâi erwähnt. (Grünbaum, ebd.)

Bei Huart, Livre de la Création d'Abou-Zéïd ... p. 11 heißt es:


Ibn-Ishag berichtet folgende Worte des Propheten: Unter den Geschöpfen Gottes ist ein Hahn, dessen Sporen unter der siebenten Erde sind und dessen Kamm unter dem Thron umgebogen ist, seine Flügel berühren die beiden Horizonte. Da er des Nachts nur das letzte Drittel ruht, schlägt er mit den Flügeln und ruft: »Ehre unserem Herrn, dem heiligen König.« Die zwischen Orient und Okzident wohnen, hören es, und fangen an zu krähen.


11. Aus Nordindien.


»Raja ke dhani main dhani

Raja mera dhana ko dhani

Lechhiyo tan khaiyo kan.«

(Was ist des Königs Reichtum gegen meinen?

Durch meinen Reichtum ist der König reich.

Wenn er meinen Reichtum nahm, warum konnte er ihn nicht genießen?)


Das sind die drei Zeilen, die der lebhafte kleine Vogel pyararhi singt. Als er einst am Boden Insekten fing, fand er eine Kupfermünze; die nahm er in den Schnabel, flog fort und sang die erste Zeile. Der König hörte es, ärgerte sich über die Frechheit und nahm die Münze weg. Er sang die zweite Zeile, und der König gab ihm beschämt die Münze wieder. Da sang er die dritte Zeile.


  • Literatur: North Indian Notes and Queries 1, 155. Vgl. S. 376, Nr. 5.

12. Aus Ann am (Provinz Quangbinh).


Früher bewohnten der Pfau und der Rabe eine kleine Pflanzung und vertrugen sich gut miteinander. Einst bemalten sie sich gegenseitig, um sich zu zerstreuen. Damals hatten aber weder Pfau noch Rabe ihr jetziges Aussehen; der Pfau war unscheinbar und wurde vom Raben in das schönste Tier der Schöpfung verwandelt, der Pfau hingegen strich den Raben ganz schwarz an. Wenig befriedigt von seiner Arbeit malte er ihm noch ein weißes Halsband. Das war alles, was er konnte. Nun sprach er zu dem Raben: »Höre einmal, ich sehe dort unten Rauch und ein großes Feuer. Es sind Leute da, die einen Ochsen braten; seine Eingeweide liegen unweit des Baches.« »Halt ein mit deiner Malerei,« erwiderte der gierige Rabe, »ich will das Gekröse holen; dann halten wir einen feinen Schmaus.« Nichts war dem Pfau lieber. Der Rabe flog eilig fort, kam aber bald sehr niedergeschlagen zurück und brachte nichts mit, denn sein Freund hatte ihn ja betrogen.

Da der Pfau sich vor einem Racheakt seitens des Raben fürchtete, so flüchtete er sich auf einen Berg. Seit der Zeit leben die beiden Vögel getrennt. Bemerkt der Pfau einen Raben, so ruft er: »Häßlicher Rabe! Häßlicher Rabe!« Dann fahrt er, sich in die Brust werfend, fort: »Wie schön bin ich! Wie schön bin ich!« Diese Sätze glaubt der Annamit aus dem Geschrei des eitlen Vogels herauszuhören.


  • Literatur: Globus 81, 303.

13. Sage der Maori.


... Rupe flog in die Höhe und kämpfte nach oben, aber er wurde von Ngana-o-tahuhu zurückgeschlagen. Er war sehr hungrig und aß von dem Ungeziefer vom Kopfe seines Erzeugers. Davon wurde seine Stimme heiser. Daher kann die Taube, die ein Nachkomme Rupes ist, nur klagen und »Ku, ku« sagen.


  • Literatur: Withe, Ancient History of the Maori 1, 86.

[373] 14. Sagen aus Angola.


a) Das Wildschwein war mit seinem Verwandten, dem Schwein, im Walde. Dort sagte das Schwein: »Ich gehe ins Dorf, ich will bei den Menschen leben.« Das Wildschwein sagte: »Geh' nicht ins Dorf; da hassen sie die Tiere.« Das Schwein erwiderte: »Ich gehe ins Dorf, ich will immer die Nahrung essen, die die Menschen essen; im Busch gibt es bittre Pflanzen!« Das Schwein machte sich auf und kam ins Dorf. Man baute ihm einen Stall; es ging hinein und blieb. Es kriegte Junge; man ergriff es und tötete es; denn es hatte ja schon Nachkommenschaft hinterlassen.

Wenn das Schwein beim Schlachten quiekt, sagt es: »Das Wildschwein warnte mich: Geh' nicht ins Dorf,« ich aber sagte: »Ich will doch hingehen«. Wenn es im Sterben liegt, ruft es: »Ich sterbe, ich sterbe, ich Schwein!« Früher hatten die Leute keine Schweine; was diese in ihre Wohnungen trieb, war, daß die Nahrung, die jene essen, gut ist.


  • Literatur: Chatelain, Folktales of Angola, S. 215.

b) Der Schakal war im Busch mit seinem Verwandten, dem Hund. Er schickte den Hund und sagte: »Geh zu den Häusern, hole Teuer. Wenn du damit kommst, wollen wir die Grassteppe anbrennen, damit wir Heuschrecken fangen und essen können.« Dem Hund war es recht. Er machte sich auf, ins Dorf zu gehen, kam in ein Haus und fand eine Frau, die ihr Kind mit Brei fütterte. Der Hund setzte sich. Er wollte das Feuer nicht nehmen. Die Frau hatte ihr Kind gefüttert, kratzte den Topf aus und gab den Rest dem Hunde. Der aß es und dachte: »Ich sterbe fast immer Tor Hunger im Busch, und im Dorf gibt es gutes Essen.« Und er blieb da. Der Schakal, der zurückgeblieben war, suchte ihn, aber er kam nicht wieder. Wenn der Schakal heult, ruft er: »Ich bin erstaunt, ich, der Schakal von Ngonga. Den Hund schickte ich nach Feuer. Als er den Brei fand, ließ er sich verführen und blieb dort


  • Literatur: Chatelain, ebd. S. 213.

c) Ich will euch vom Frosch Kumboto erzählen, der zwei Frauen heiratete. Für die eine Frau baute er im Osten, für die andere im Westen. Sein Lieblingsplatz war in der Mitte. Die Frauen kochten Essen zur selben Zeit. Die Hauptfrau schickte einen Boten: »Geh und hol' den Vater!« Die Nebenfrau schickte auch einen Boten: »Geh und hol' den Vater!« Die Boten machten sich auf und langten zu gleicher Zeit an. Der eine sägte: »Es wird nach dir geschickt!« Der andere sagte: »Es wird nach dir geschickt!« Der Frosch sagte: »Was soll ich tun? Beide Frauen haben nach mir geschickt. Wenn ich zuerst zur Hauptfrau gehe, wird die Nebenfrau schelten: Du gingst zuerst zur Hauptfrau! Wenn ich aber zuerst zur Nebenfrau gehe, wird die Hauptfrau sagen: Du gingst zuerst zu deiner Liebsten!« Da sang der Frosch:


»Ich bin in Not, ich bin in Not, ich bin in Not, ich bin in Not!«


Wenn er quakt »kuó-kuó, kuó-kuó«, sagen die Leute: »er quakt«. Aber nein, er ruft: »Ich bin in Not!«


  • Literatur: Chatelain, ebd. S. 217.

d) Ein Schmied hatte den Amseln Hacken verkauft. Nach drei Monaten sollte er sich dafür Bienenwachs als Bezahlung holen. Nach drei Monaten kam er und forderte seinen Lohn, aber die Amseln sagten: »Wem hast du die Hacken verkauft?[374] Nenne uns die Person.« Der Schmied sagte: »Ich habe sie euch, den Amseln, ver kauft.«

Die Sache kam vor den Richter. Der konnte nicht entscheiden. Eine Taube kam dazu und riet dem Schmied, alle Amseln anzubinden. Da sagte jede Amsel: »Ich bin dir schuldig!« oder: »Binde mich los, daß ich deine Schuldner fangen kann!« So wurde dem Schmied das Wachs bezahlt. Wenn die Taube gurrt, so heißt es: »die Taube gurrt!« Das ist aber nicht so. Sie entscheidet die Sache des Schmiedes.


  • Literatur: Chatelain, ebd. S. 151.

Fußnoten

1 Swainson, Folklore of British Birds, p. 21 führt noch folgende Stellen an:

Thomas Adams of Wellington (Works II, 485):

Es heißt, die Nachtigall schläft mit einem Dorn gegen die Brust, um Schlangen zu vermeiden.

Aneau, Description philosophale de la Nature, Paris 1571.


Au printemps, doux et gracieux,

Le rossignol a pleine voix

Donne louange au dieu des dieux,

Tant qu'il faict rententrir les boys.

Peur du serpent il chante fort

Toute nuict et met sa poictrine

Contre quelque poignante espine

Qui le réveille quand il dort.


Shakespeare, Lucrece.


And whiles against a thorn thou bear'st thy part

To keep thy sharp woes waking.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 375.
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