1. Märchen aus Afrika.

a) Hase und Schildkröten.

[50] 1. Bantu-Märchen aus dem Graçalande (Gegend von Lourenzo-Marques).


[A1] Der Hase verspottet die Langsamkeit der Schildkröte, [A2] diese behauptet, daß sie ihn im Laufen überholen könne. Der Hase spottet weiter: »Wenn ich selbst den ganzen Tag schlafend liegen bliebe und du während dieser ganzen Zeit liefest, (vgl. Äsop), würde ich dich doch einholen, ehe du ans Ziel gekommen bist.« Die Schildkröte steigert ihre vorige Behauptung: sie laufe viel schneller als alle übrigen Tiere. Der Hase verlangt die Probe, und die Schildkröte erklärt, daß sie am anderen Tage bereit sei, sie könne jedoch nur im Grase, nicht aber auf ausgetretenem Pfade laufen.

[B1] Dann stellt sie alle ihre Verwandten längs der zu durchlaufenden Strecke im Grase auf und weist ihnen ihre Aufgabe für den kommenden Tag an. [B2] Der Hase ruft während des Wettlaufs mehrmals: »Schildkröte, wo bist du?« und jedesmal ruft eine: »Hier bin ich!« Er beschleunigt seinen Lauf, so sehr er kann. [B4] Als er am Ziele ankommt, findet er, daß die Schildkröte schon lange vor ihm da ist. Er bricht tot zusammen.


Diese Geschichte hat eine Fortsetzung, die sich nur noch einmal wiederfindet und beidemal aus dem Bestreben entstanden ist, den Stoff durch eine neue Wendung doppelt anziehend zu machen.


Die Schildkröte, durch den Sieg übermütig geworden, reizt den Leoparden zum Wettlauf, indem sie sich rühmt, ihn besiegen zu können. Es wiederholt sich die List, das Anrufen und die Erwiderungen. Der Leopard verwundert sich, läuft ein Stück zurück und fragt: »Schildkröte, wo bist du?« Als er die Antwort erhält: »Hier bin ich!« fragt er sich: »Wie konnte sie wissen, daß ich zurückliefe?« Er läuft bis an den Ausgangspunkt, tötet die Schildkröte, die ihn besiegen wollte, und ebenso alle übrigen. Darauf folgt ein naturdeutender Schluß, der aus reiner Willkür als reizvolle Zuspitzung gewählt ist: »Von diesem Tage an gibt es so wenig Schildkröten, auch findet man sie niemals zu mehreren beisammen, sondern nur vereinzelt.«


  • Literatur: Revue des trad. pop. 10, 390.
    Ad. Bastian, Exped. an der Loangoküste 2, 243 berichtet, daß der Leopard besondere Verehrung als Prinz des Waldes genießt. »Wenn ein gemeiner Neger einen solchen tötet, wird er gebunden vor die Prinzen geführt, da er einen der ihrigen, einen ihresgleichen, geschlagen habe.«

2. Aus Kamerun.


[A1] Der Hase höhnt die Schildkröte, daß sie mit ihren kurzen Beinen nicht laufen könne. [A2] Die Schildkröte bietet ihm den Wettlauf an. [A3] Beider ganzes Vermögen ist der Preis. [B1] Die Schildkröte stellt ihre sechs Kinder an der zu durchlaufenden Wegstrecke auf; jedes soll rufen: »Lauf, Häslein, lauf!« und der älteste Sohn am Ziele: »Gewonnen!« Am andern Morgen findet der Lauf statt; die Schildkröte kehrt bald um und geht nach Hause. Der Hase, [B2] angespornt durch fünfmaligen Zuruf, strengt sich immer mehr an und [B4] bricht am Ziel ohnmächtig zusammen. Die Schildkröte spricht die Moral: »Man muß niemand wegen seiner Gestalt verhöhnen, – so wie jedes von uns geschaffen[50] ist, so ist es gut.« Episodisch tritt auch die Frau des Hasen auf. Während nämlich die Schildkröte in der Nacht vor dem Wettlauf vorzüglich schläft, ist der Hase sehr aufgeregt. Die Trau beruhigt ihn. Und als die Wette verloren ist, beredet die Frau die Schildkröte, sich mit der Hälfte des Preises zu begnügen. Episodisch sind ferner zwei Zeugen, die das Zeichen zum Beginn des Wettlaufs geben (ebenso überflüssig wie der Fuchs in der zweiten griechischen Variante).


  • Literatur: E. Meinhof, Märchen aus Kamerun, 2. Aufl., S. 47, wo freilich der Hase genannt ist, doch erläuterte der eingeborene Erzähler: Hase ist nicht wie in Deutschland, sondern hat kleine Hörner, womit er die einheimische Antilope meinte, = A. Seidel, Geschichten und Lieder der Afrikaner 1896, S. 162, im wesentl. übereinstimmend: T.v. Held, Märchen und Sagen der afrik. Neger, 1904, S. 99.

b) Elefant und Schildkröten.

3. Märchen der Wakonde (im Süden von Deutsch-Ostafrika, am Njassa).


Ich führe das Märchen im vollen Wortlaut an, weil es ein vorzügliches Beispiel der Erzählungskunst der Neger ist.1 Es besteht aus zwei Teilen, deren erster uns später beschäftigen wird.


Die Schildkröte begegnete dem Elefanten am Wege und sprach zu ihm: »Nicht wahr, Elefant, du denkst, daß du allein ganz groß bist, wie?« – »Ja, hast du das noch nicht bemerkt?« – »Also du bist groß?« – »Ja, warum?« – [A2] »Wenn ich springe, springe ich über deinen Kopf weg.« – »Du?!« – »Ja ich.« – »Du Kleiner?« – »Freilich!« – »Also los! Wir werden staunen, wie schön du's – nicht kannst.« – »O nein! Heute bin ich müde, weil ich von weit herkomme.« – »Siehst du, was du für ein Aufschneider bist! Jetzt suchst du Ausflüchte!« – »Warte nur: morgen wollen wir uns hier wieder einfinden. Da wirst du dich wundern, wie ich springe.«

Der Elefant ging davon. Freund Schildkröte aber lief nach Hause und holte seine Frau und versteckte sie im Gebüsch am Wege. Als es Tag wurde, kam der Elefant wieder. »Da bist du ja,« sprach die Schildkröte, »willkommen! Jetzt stell' dich mal hierher!« – Da stand er nun, hier die eine Schildkröte, da die andere, der Elefant in der Mitte. – »Nur zu, Schildkröte! Springe!« – Hopp! machte die Schildkröte und tat, als holte sie zum Sprunge aus. He! machte gleich darauf die andere Schildkröte, als ob sie zu Boden spränge. – »Willst doch mal nachsehen,« dachte der Elefant, – und wirklich, die Schildkröte war da! »Der Tausend! Daß du so schnell bist! Mach's noch einmal, denn ich hab's nicht deutlich sehen können.« – Hopp! machte nun die Frau Schildkröte. Und schnell drehte sich der Elefant herum, um nachzusehen! He! machte der Schlaukopf auf der anderen Seite, wahrhaftig, da saß er! »Darin bist du mir wirklich über,« sagte der Elefant, »aber Laufen – das kann ich doch besser!« – Sprach die Schildkröte: »Ich weiß nicht, – es kam' auf den Versuch an.« – »Nur zu, Schildkröte.« – »O nein! Jetzt bin[51] ich müde, weil ich so hoch gesprungen bin. Aber wenn du morgen kämst –?« – »Auch gut, lassen wir's bis morgen.« – »So finde dich in der Frühe wieder ein, denn hier soll der Wettlauf beginnen.«

[B1] In der Nacht nahm die Schildkröte ihre Kinder und alle Vettern und Verwandten mit sich und versteckte sie am Wege, den einen hier, den andern da, und sprach zu ihnen: »Gebt acht, wenn ihr den Elefanten kommen seht, dann tut so, als ob ihr mit ihm um die Wette liefet.«

Am Morgen erschien der Elefant und rief: »Schildkröte, bist du da?« – »Jawohl,« antwortete sie. – »Komm, wir wollen laufen.« – Und trapp! trapp! trapp! setzte sich der Elefant in Bewegung. Als er eine Strecke gelaufen war, dachte er bei sich: »Willst doch mal nachsehen, wie weit die Schildkröte zurückgeblieben ist!« und rief: »Schildkröte!« – [B2] »Hier!« tönte es vor ihm. – Tausend ja! – Erschrocken lief er weiter und lief und lief. Dann dachte er wieder bei sich: »Willst doch mal nachsehen, wie weit die Schildkröte jetzt zurückgeblieben ist.« – »Schildkröte!« rief er. – »Hier!« tönte es vor ihm, und wieder rannte er erschrocken weiter. Und so ging es noch ein paarmal. [B3] Zuletzt konnte der Elefant nicht mehr laufen und gab das Rennen auf.


  • Literatur: Schumann, Grammatik der Konde-Sprache (Mitt. des Orient. Sem. 2, Abt. 3, 82). Französisch b. Basset, Contes d'Afrique 277.

4. Märchen der Bakwiri (Kamerun; zwischen dem untern Mungo und dem Hochgebirge, den Duallas des Küstengebietes nahe verwandt).


Der Elefant ging einst zum Meeresufer, da zu baden. Da sah er eine Schildkröte über den Sand kriechen [A1] und sprach zu ihr: »Du bist ein faules Tier, du kannst nur Schritt für Schritt marschieren.« [A2] Aber sie erwiderte: »Was gilt's, ich komme schneller fort, als du?« Darauf läuft der Elefant mehrere Wochen ins Gebirge, sich Kraft anzufressen. [B1] Die Schildkröte aber geht zu einigen ihrer Schwestern und dingt sie, daß sie sich von der Küste an in gemessenen Entfernungen längs des Weges aufstellen, den der verabredete Wettlauf nehmen soll. Sie selbst wählt ihren Platz zu oberst am Ziele, auf dem Berge. Als der Elefant nach einiger Zeit zurückkommt, spricht die Schildkröte am Meere, die er natürlich für die frühere Bekannte hält, zu ihm: »Nun kann's losgehen,« und alsbald rennt der Elefant blindlings, ohne sich umzudrehen, davon, daß der Boden erzittert. [B2] Aber als er schwitzend das nächste Dorf erreicht, hockt die Schildkröte bereits behaglich am Wege. Da ruft er: »Da ist es schon, das elende Tier, ich muß noch besser laufen.« Und abermals stürmt er pustend davon. Jedoch wie er auch eilt, überall ist seine Feindin schon vor ihm angekommen. [B4] Die Wut stachelt ihn zu wahnsinniger Anspannung aller Kräfte an, ... und als er endlich auf der Höhe ankommt, bricht er taumelnd zusammen und verendet.


  • Literatur: Bernh. Schwarz, Kamerun 1886, S. 162.

c) Steinbock oder Strauße und Schildkröten.

5. Märchen der Betschuanas2 (Südafrika).


[A] Eine Schildkröte und ein Steinbock machten eines Tages einen Wettlauf. [B1] Die schlaue Schildkröte hatte sich aber mit ihren Schwestern verabredet, die sich überall auf verschiedenen Punkten der Rennbahn aufstellten. [B2] Als nun der arme Steinbock eine Strecke gelaufen war, rief er: »Kröte, wo bist du?« »Hier bin[52] ich!« erwiderte die nächste der Schwestern. Der Steinbock setzt wieder an, Frage und Antwort erneuern sich aber so lange, [B4] bis der gehetzte Bock vor Erschöpfung tot hinfallt.


  • Literatur: Ausland 1858, 232.

6. Märchen der Hottentotten in Groß-Namaqualand. (Das Wettlaufmotiv fehlt, und es bleibt die Geschichte einer grausamen Hetzjagd übrig.)


Eines Tages hielten die Schildkröten Rat, wie sie die Strauße jagen könnten, und sie sprachen untereinander: [B1] »Laßt uns auf beiden Seiten nahe bei einander stehen (nämlich in Reihen). Dann jage einer von uns die Strauße auf, so daß sie mitten zwischen uns hindurch fliehen müssen.« So taten sie denn, und da ihrer viele waren, so mußten die Strauße eine lange Strecke mitten zwischen der Schildkrötenreihe durchlaufen. Die Schildkröten rührten sich inzwischen nicht vom Platze, sondern blieben stehen, und [B2] die eine rief der andern zu: »Bist du da?« worauf die andere erwiderte: »Ja, hier bin ich!« Als die Strauße das hörten, liefen sie aus Leibeskräften davon, [B4] bis sie zum Tode ermattet niederfielen. Nun versammelten sich die Schildkröten gemütlich auf dem Platze, wo die Strauße niedergestürzt waren, und [B5] verspeisten sie.


  • Literatur: Bleek, Reineke Fuchs in Afrika 25.

d) Antilope und Schildkröten.

7. Märchen der Fang (am Kongo).


Die Antilope lacht die Schildkröte aus, weil sie so langsam läuft, und macht ihren Gang nach [A1]. Die Schildkröte schlägt die Wette vor [A2]. Der Elefant wird zum Schiedsrichter bestellt. Der Sieger soll mit dem Besiegten nach Gutdünken verfahren [A3]. Die Schildkröte sagt, sie müßten noch sechs Tage warten. Am sechsten Tage beginnt der Wettlauf. Die Antilope läuft ein Stückchen, sieht sich um und sieht niemand. Da ruft die Schildkröte vor ihr [B2]. Die Antilope sieht sie laufen, weiß sich das Rätsel nicht zu erklären und läuft weiter, so schnell sie kann. Das zweitemal geschieht das gleiche. Die Antilope sagt, die Schildkröte habe Zauber gemacht. Dasselbe wiederholt sich noch öfters. Die Antilope gibt zu, daß sie verloren habe, und bittet die Schildkröte um etwas Wasser. Sie gibt es ihr [B4]. Sie kommen vor den Elefanten. Die Schildkröte trägt die Antilope auf dem Rücken und erklärt, daß jene ihr Sklave sei. Der Elefant gesteht ihr dies zu. [Es folgt die Erklärung der List.]


  • Literatur: Bull, de la Soc. Neuchât. de géogr. 16, 216.

8. Kameruner Märchen.


Der Ngolon (große Antilope, fast so groß wie unser Hirsch) und die Schildkröte machten eine Wette miteinander. Sie wollten sehen, wer von ihnen am schnellsten laufen könne. Wer von ihnen zuerst zum Ziele käme, der sollte vom anderen eine Frau (Wert: 3000 Mark) erhalten [A3].

Die Schildkröte hatte einen klugen Einfall. Sie ließ alle Schildkröten aus ihrer Verwandtschaft kommen. Jedesmal am Ende einer Wegstrecke mußte sich eine verstecken [B1].

Nun begann der Wettlauf. Als die Schildkröte hinter dem Ngolon zurückblieb, rief der Ngolon: »Schildkröte, bleibe nicht zurück!«

Gleich darauf kam der Ngolon an einer anderen Schildkröte vorbei. Diese sprach zum Ngolon: »Wie kannst du nur zu mir sagen: Du bleibst zurück?«

[53] Der Ngolon lief nun immer schneller. Doch immer wieder rief ihn eine Schildkröte an [B2]. Zuletzt wurde er so müde und matt, daß er niederstürzte [B4].

Als nun die Wette so ausgefochten war, gingen sie zurück. Die Schildkröte jauchzte und rief: »Ich habe den Ngolon besiegt und gewann eine Frau. Ich kann schneller laufen als er!«

Alle Tiere hielten nun die Schildkröte für ein kluges Tier.


  • Literatur: Lederbogen, S. 40, Nr. 18. Vgl. oben S. 51, Nr. 2, Amn.

Fußnoten

1 Vgl. z.B. Bernh. Schwarz, Kamerun (1886), S. 163 über die Bakwiri: Ein Cicero würde unter ihnen noch Konkurrenten genug finden. Ein solcher fast nackter Buschmensch, der in den seltensten Fällen seinen Namen schreiben kann und nie eine Schule besucht hat, vermag eine halbe Stunde und länger öffentlich zu sprechen, ohne sich ein einziges Mal zu versprechen. Dabei ist seine Redeweise elegant und namentlich außerordentlich bilderreich. Und der Vortrag zeigt größte Modulation der Stimme, die bald zu sanftem Flüsterton herabsinkt, bald donnernd anwächst. Zugleich kommen gewandte Gesten mit zur Verwendung.


2 Richtiger Tschuanen, vgl. Th. Hahn, die Sprache der Nama (1870), S. 8.


Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 54.
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