A. Die afrikanisch-amerikanische Märchengruppe.

a) Afrikanische Märchen.

[73] 39 a. Aus Madagaskar.


Eines Tages begegnete ein Wildschwein, das zu jagen ausging, auf der Straße neben einem Wasserlauf einem Chamäleon. [A1] Als es das Chamäleon erblickte, rief es aus: »O, wie komisch du läufst, Freund! Wenn man sieht, wie du dich vorwärts bewegst, so muß man doch denken, daß du nie genug zu essen hättest, so langsam läufst du. Also nimm dich ja in acht, daß nicht irgendein großes, wildes Tier kommt und dich tottrampelt, denn du bist ja schwach und langsam. Komm, wir wollen uns beide hier an diesem Wasserlaufe trennen, und selbst, wenn ich nicht schnell laufe, sondern ganz langsam gehe, – sieh nur! – so wirst du doch kaum über das Bett dieses Flüßchens gelangt sein, während ich schon das Tal durchschritten habe«. Da antwortete das Chamäleon: »Es ist schon wahr, Freund; ich erscheine dir schwach und langsam. Aber bedenke, daß jeder von uns gerade das besitzt, was am am besten für ihn paßt. Du kannst dir genügend Beute erjagen, und ich kann mir ebenfalls so viel verschaffen, wie ich brauche« [A2] Darauf begann das Chamäleon noch einmal und sprach: »Entschuldige, mein Lieber! Ich will ja nicht als kleines Geschöpf ein großes herausfordern, doch wenn ihr nicht böse darüber seid, so laßt uns beide an diesem Wasserlauf ein bißchen spielen.« Das Wildschwein fragte: »Was für ein Spiel soll es denn sein?« Das Chamäleon antwortete: »Wenn du auch schnellfüßig bist und ich langsam, – komm, älterer Bruder, laß uns einen Wettlauf veranstalten.« Da wurde das Wildschwein zornig bei sich, doch es sagte: »So komm, laß uns beide ein bißchen höher hinaufgehen, um unsere Schnelligkeit zu prüfen; dort ist ein geräumiger Weideplatz, während es hier sumpfig ist; und du würdest ja schon verletzt werden, wenn dich die Erde von meinen Füßen träfe. Also laß uns auf den Platz dort geben, und wenn du mich überholst, so will ich samt meiner ganzen Familie dir dienen.« Da sprach das Chamäleon: »Warum so böse, älterer Bruder? Ich kann mich ja nicht einmal mit dir allein messen; denn ich fürchte mich vor dir; was sollte dann erst werden, wenn ich deine Familie als Diener hätte? Wenn wir aber bloß im Spiel wetten, dann laß uns hinaufgehen, um unsere Schnelligkeit zu prüfen!« Also gingen sie hinauf auf den Weideplatz und bestimmten als Ziel einen Baumstamm inmitten des langen Vérograses. [G.] Dann machten sie sich fertig; das Chamäleon kletterte an dem hohen Grase entlang bis zur Mähne des Wildschweins, und als es sich dort festgesetzt hatte, sagte es: »Nun lauf, älterer Bruder!« Und als das Wildschwein davonrannte, hielt sich das Chamäleon an Mähne und Schwanz fest. [B3] Am Ziel sprang das Chamäleon gleich in das hohe Gras. Als nun das Wildschwein sich umdrehte (um nach dem Chamäleon auszusehen), rief dieses: »Sieh[73] nicht rückwärts, älterer Bruder, denn hier vor dir bin ich!« [B4] Da war das Wildschwein erstaunt und böse und wiederholte den Wettlauf, aber wieder hielt sich das Chamäleon fest wie zuvor. So ging es eine Weile hin und her, bis das Wildschwein vor Ermüdung tot hinfiel.


  • Literatur: Sibree, Malagassy Folklore in Folklore Journal 2, 168. Das Chamäleon gilt dem Afrikaner als Typus der Langsamkeit. In Südwestafrika hat es den Volksnamen »Jann, trap soetjes« (Johann, geh langsam). Vgl. Irle, Die Herero S. 43. Es gilt aber auch als kluges Tier, das z.B. den Affen durch List besiegt (Bleek, Reineke Fuchs in Afrika S. 142) und als heilig, so daß es nicht getötet werden darf (Irle, ebenda).

39b. Variante.


Wildschwein und Frosch besuchen einander; beim Wildschwein gibt es reichlich zu essen, beim Frosch wenig. [A1] Das Wildschwein wird böse und schlägt einen Zweikampf vor in Schnelligkeit, Kraft und Ausdauer. Beide kommen überein, bis oben auf einen Hügel zu laufen. [G.] Aber sowie das Wildschwein zu laufen anfängt, springt der Frosch ihm auf den Hals. Da er leicht von Gewicht ist und sein Gegner einen starken Hals hat, bleibt er unbemerkt. [B3] Am Ziele angekommen, springt der Frosch ab, und da das Wildschwein dies wieder nicht bemerkt, so muß es zugeben, daß es verloren hat. [Es folgt dann Wettspringen und Wettrufen, wiederum unterliegt das Wildschwein.]


  • Literatur: Sibree, Folklore Journal 2, 79.

40. Ein Yao-Märchen vom Nyassa.


[A3] Vier außerordentlich große Elfenbeinzähne, so groß, daß jeder Zahn von vier Männern getragen werden mußte, lagen bereit als Wettlaufpreis, und man sagte: »Wohlan, laufet um die Wette, alle Tiere! Wer zuletzt ermüdet, bekommt das Elfenbein.«

Da kamen viele Tiere und liefen um die Wette, wurden aber müde und gaben den Wettlauf auf, so daß nur noch der Löwe übrig blieb. Dieser freute sich und sprach: »Mir gehört der Preis!« [A2] Da erhob sich die Schildkröte und sprach: »Noch nicht! Wir wollen noch miteinander Wettlaufen, damit ich jenes Elfenbein bekomme.« [A1] Der Löwe weigerte sich, lachte und sprach: »Wie? Wirst du wettlaufen können?« Die Schildkröte entgegnete: »Du wirst es schon sehen, lauf nur zu!« [G] Die Schildkröte kletterte unbemerkt auf des Löwen Rücken, und so liefen sie denn, – liefen, liefen und liefen, bis der Löwe müde wurde und ausruhen mußte. [B2] Da rief die Schildkröte: »Ruht nicht aus, sonst bekomme ich die Elfenbeinzähne.« Weiter und weiter lief wiederum der Löwe, [B4] bis er ganz und gar ermattet wieder zu den Elfenbeinzähnen kam. [B3] Da machte er Halt, drehte sich um und fragte: »Schildkröte, wo bist du?« Die Schildkröte antwortete hinter ihm: »Ach, ich bin schon lange hier.« Da sah sich der Löwe besiegt und ließ ihr den Preis.


  • Literatur: Held, S. 132. Aus: Ferstl, Yao-Erzählungen (Mitteil, d. Seminars f. oriental. Sprachen zu Berlin III, 3, 102.) Französisch bei Basset, Contes d'Afrique, 283. Die Schildkröte (statt eines behenden Tieres) stammt aus Form II.

41. Märchen der Mambettu (Inner-Afrika; nordöstlich vom Albert-Nyanza).


[Das Eingeklammerte ist Mischung mit der Form II.] [A2] Eines Tages lud das Chamäleon den Elefanten zum Laufen ein. Der Elefant nahm die Herausforderung an, [deren Entscheidung auf den folgenden Morgen verlegt wurde. Während der Nacht verteilte das Chamäleon viele seiner Brüder in kurzer Entfernung[74] den Weg entlang, der zu durchlaufen war. Als der folgende Tag graute, kam der Elefant] und fing ohne weiteres zu laufen an. [G] Das Chamäleon stieg hurtig dem Elefanten auf den Schwanz. [B2 entstellt1] Bei jeder Begegnung mit einem Chamäleon fragte der Elefant: »Bist du nicht müde?« »Nein,« antwortete das gefragte Tier, das sich jetzt erst anschickte, den kleinen ihm angewiesenen Teil zu durchlaufen. [B4] Zuletzt blieb der Elefant atemlos und müde stehen, indem er sich für besiegt bekannte.


  • Literatur: Casati, Zehn Jahre in Äquatoria 1, 154.

42. Märchen des Ga-Stammes an der Goldküste.


Eines Tages kamen die Tiere des Waldes zusammen und berieten untereinander und fragten: Wer soll König unter uns sein? Sie brachten ihre Sache vor Gott, den Schöpfer. [A] Dieser entschied, daß der Thron durch einen Wettlauf entschieden werden sollte; wer zuerst darauf sitze, dem solle er gehören. Alle Tiere stellten sich in eine Reihe, und dann begannen sie zu laufen. Wie man sich denken kann, erreichte ihn der Elefant zuerst. [B3] Als er sich aber darauf setzen wollte, schrie etwas hinter ihm: »Zerdrück' mich nicht, zerdrück' mich nicht, siehst du nicht, daß ich schon darauf sitze?« Es war Adowa, der Zwerghirsch. Er hatte sich beim Beginn in der Nähe des Elefanten gehalten, sprang dann auf ihn und hielt sich am Schwänze fest. [G] Nur infolge seiner dicken Haut und des starken Laufens merkte der Elefant nichts. Als er sich nun nach dem Sprecher umwandte, ließ sich Adowa auf den Thron gleiten, und der Elefant mußte ihn anerkennen. Seit dieser Zeit darf von dem Felle des Adowa nur der erste Häuptling Gebrauch machen, der König von Akkra; er benutzt es zu seinem Amtshut, und niemand darf das gleiche tun.


  • Literatur: Globus 1908.

b) Amerikanische Märchen.

43. Märchen aus Amazonas (am Amazonenstrom, stromabwärts von Santarem).


[A] Der Wettlauf findet zwischen einem Reh und einer Holzzecke (Ixodes) statt. [G] Als der Lauf beginnen soll, setzt sich die Zecke auf den Schwanz des Rehes. [B2] Wenn nun das Reh während des Laufes sich umblickt und nach dem Gegner ruft, erhält es stets zur Antwort: »Ich bin schon da!« [B4] Es strengt sich deshalb mehr und mehr an und bricht zuletzt vor Erschöpfung zusammen.


  • Literatur: Hartt, Tortoise Myths p. 11 und Andree, Verh. d. Berl. anthrop. Gesellsch. 1887, S. 674.

44. Araukanisches Märchen.


»Wir wollen spielen, Freund Bremse,« sagte der Fuchs zur Bremse. »Gut«, antwortete diese. »Was wollen wir spielen?« [A] »Wir wollen Wettrennen spielen,« sagte der Fuchs; »du läufst auf der Erde und ich über der Erde.« »Gut,« sagte die Bremse. »Dort hinten die Eiche wird unser Ziel sein,« sagte der Fuchs. »Gut,« sagte die Bremse. – So rannten sie um die Wette. [G] Als aber der Fuchs gerade losrennen wollte, setzte die Bremse sich ihm auf den Schwanz. So rannte denn der Fuchs schnell davon. Als er nun so mit aller Geschwindigkeit dahinrannte,[75] sah er Erdbeeren stehen. »Hier will ich doch erst ein paar Erdbeeren essen,« sagte der Fuchs. »Wo mag wohl die Bremse am Laufen sein?« Da machte sich der Fuchs daran, Erdbeeren zu essen. »In einer kleinen Weile komme ich ja doch ans Ziel,« sagte der Fuchs. Als er nun schon beinahe angekommen war, da machte sich die Bremse eilends auf, [B3] und so wurde der Fuchs besiegt. »Ich habe gewonnen, Fuchs,« sagte die Bremse; »zahl mir meine Wette aus.« »Ich will nicht,« sagte der Fuchs; »sei froh, daß ich dich nicht fresse.« [Da holte sich die Bremse hunderte von Genossen zu Hilfe, die sich auf ihn stürzten. Lebendig krochen sie in ihn hinein und bissen ihn von innen. Vergebens suchte er im Wasser Bettung. Sie bissen wieder. Er lief in den Wald und wurde dort von ihnen getötet.]


  • Literatur: Rud. Lenz, Araukanische Märchen, Valparaiso 1896, S. 44. Dieses Ende erinnert an den Schluß der madagassischen Geschichte Nr. 39 b. Bei der Schreiprobe holt sich der Frosch seine Gefährten zusammen, und das Wildschwein weicht der Überzahl.

Fußnoten

1 Nicht aufgestellte Tiere sprechen ihn durch Zuruf an, sondern das auf ihm sitzende.


Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 76.
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