Viertes Capitel.
Von der Gerechtigkeit der Richter.

[5] Cäsar setzte als König das Gesetz ein, daß, wenn Jemand ein Weib entführe und ihr Gewalt anthue, es in der freien Wahl der Frau stehen solle, ob er sterben oder sie ohne Mitgift heirathen solle. Nun trug es sich zu, daß einer zur Nacht zwei Weiber auf einmal raubte: die eine verlangte seinen Tod, die andere den Ehebund mit ihm. Der Räuber wurde ergriffen und vor den Richter geführt, auf daß er sich dem Gesetze gemäß vor beiden Frauenzimmern verantworten solle. Die erste Frau verlangte dringend dem Gesetze gemäß nach seinem Tode, die zweite schrie, sie wolle ihn zum Manne haben, und sprach also zu dem erstern Weibe: Es ist zwar wahr, daß dieses das Gesetz besagt, daß Du Deine Bitte erfüllt siehst, allein ebenso schreit auch das Gesetz für mich. Allein mein Wunsch ist geringer und mehr der christlichen Liebe angemessen: darum glaube ich, wird der Richter zu meinen Gunsten sein Urtheil sprechen. Beide Frauen klagten nun bei dem Richter und eine Jede verlangte die Wohlthat des Gesetzes. Als nun der Richter beide Theile angehört hatte, erlaubte er der zweiten Frau, daß sie ihn zum Manne nähme, und also geschah es.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 5.
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