Hundertundeinunddreißigstes Capitel.
Von den Reichen, denen gegeben, und den Armen, denen auch das, was sie haben, genommen wird, wofür sie aber Gott in Ewigkeit belohnt um des himmlischen Vaterlands Willen.

[256] Einst ließ ein König öffentlich ausrufen: es sollten Alle ohne Ansehn der Person zu ihm kommen und Alles erhalten, um was sie bitten würden. Die Edeln und Reichen aber baten um ein Herzogthum oder eine Grafschaft, Andere um eine Kriegsoberstenstelle, Einige um Silber und Gold, und erhielten es. Dann kamen Arme und Einfältige zu dem Könige und baten ihn: der König aber sprach zu ihnen: Ihr seyd zu spät gekommen, denn die Edeln und Fürsten sind vor Euch hier gewesen, und ich habe ihnen Alles, was ich hatte, gegeben. Da wurden sie gar traurig über diese Antwort und der König ward vom Mitleid bewegt und sprach: Ihr Lieben, ihnen[256] habe ich nur zeitliche Güter gegeben, allein die Herrschaft habe ich zurübehalten, weil sie Niemand begehrt hat: die will ich Euch geben, auf daß Ihr Herren und Richter seyd. Wie das die Richter hörten, wurden sie traurig und kamen zum König also redend: Herr wir sind ganz bestürzt, daß Du arme Leute und Knechte von uns zu Richtern und zu unsern Herrn bestellt hast, es ist besser, daß wir sterben, als daß wir in eine solche Knechtschaft kommen. Da sprach der König: meine Lieben, ich thue Euch kein Unrecht, und um was Ihr gebeten habt, das habe ich Euch Alles gegeben, so daß ich für mich nichts als die Herrschaft behielt, die ich ihnen hiermit gegeben habe. Euch aber gebe ich den Rath, daß wer von Euch genug zu leben hat, jeder von Euch einen Theil seines Reichthums den Armen geben mag, wodurch sie anständig leben können, und ich will die Herrschaft wieder von ihnen nehmen und sie sollen bei mir bleiben: und also werdet Ihr von einer großen Knechtschaft erlöst werden: und also geschah es.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 256-257.
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