Hundertundsechzigstes Capitel.
Wie uns der Teufel beständig abhält Gutes zu thun.

[72] Es geschieht häufig, daß die Engel des Satans sich in Engel des Lichts verwandeln, um in den menschlichen Herzen irgend eine teuflische Eingebung zu nähren. Um diese nun kennen zu lernen, wird folgendes höchst merkwürdiges Beispiel hier beigefügt. Es lag im Gebiete von Arles, wie Valentinus daselbst Bischoff war, ein gewisses Schloß, dessen Gebieterin die beständige Gewohnheit an sich hatte, unter der Feier der Messe nach dem Evangelium die Kirche zu verlassen, weil sie die Einsetzungsworte des Leibes unseres Herrn nicht vertragen konnte. Obgleich nun viele Jahre lang ihr Mann, der Schloßherr, diese Sache bemerkt hatte, so hatte er trotz allem eifrigen Nachforschen doch den Grund dieser so großen Frechheit nicht erfahren können, sie wurde also eines Tages, als das heilige Evangelium zu Ende gebracht worden war, da sie eben im Begriff war hinwegzugehen, durch ihren Mann und seine Diener daran verhindert und aufgehalten, und sobald der Priester die Einsetzungsworte aussprach, ward die Dame von einem teuflischen Geiste in die Höhe gehoben, flog davon, und riß einen Theil der Kapelle mit sich fort, ward aber weiter in jenem Lande nicht wieder erblickt. Da indessen der Theil des Thurmes, an welchem sich die Kapelle lehnte, noch steht, so liefert er ein Zeugniß für diesen Vorgang.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 72-73.
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