[222] 48. Die Jungfrau auf dem gläsernen Berge.

Es war einmal ein armes Weib, das hatte einen Sohn, der hieß Hans. Dieser ging einst in den Wald, und als er eine Weile gegangen war, kam er zu einem Teiche. Kaum näherte er sich dem Ufer, so sprangen drei wunderschöne Frauen aus dem Wasser, warfen die Hemden über und flogen, in Enten verwandelt, schreiend davon. Die mittlere der drei Frauen hatte dem Hans besonders gefallen. Er ging nach Hause und erzählte das Gesehene seiner Mutter. Diese sagte: »Geh wieder in den Wald und baue dir in der Nähe des Teiches eine Hütte.« Und das geschah. Zur Zeit des Neumondes untersuchte er fleißig Morgens und Abends das Ufer des Teiches.

Als er eines Abends wieder das Ufer untersuchte, lagen drei Hemden dort. Schnell bemächtigte er sich des mittleren Hemdes, lief damit in seine Hütte und legte dasselbe in eine Truhe. Kaum war er fertig, so wurde an die Thüre geklopft. Eine Stimme rief: »Ich bitte Euch, laßt mich ein, ich habe mein Hemd verloren.« Hans sprang schnell auf, öffnete die Thüre und stellte sich dann hinter dieselbe. Das Mädchen trat herein, und warf schnell den Mantel Hansens um, den dieser auf dem Bette hatte liegen lassen. Dann bat sie den Hans um ihr Hemd. Allein er gab ihr dasselbe nicht, sondern ging fort, um seine Mutter zu holen. Kaum hatte er die Hälfte des Weges zurückgelegt, so fiel ihm ein, daß er die Truhe, in welcher das Hemd lag, nicht zugesperrt habe.[222] Schnell kehrte er um, als er aber zur Hütte kam, waren Thür und Truhe offen, und das Mädchen war fort. Auf dem Tische lag ein Zettel, darauf stund mit goldenen Buchstaben geschrieben: »Meine Heimat ist auf dem gläsernen Berge.« Da machte sich Hans sogleich auf den Weg, um den gläsernen Berg zu suchen. Kam er in eine Stadt, so rief er laut: »Wißt ihr nicht, wo der gläserne Berg ist?« Allein niemand konnte ihm Auskunft geben. Einst kam er zu einem großen Hause, aus dessen Eckfenster schaute ein Herr heraus. Hans sagte: »Wißt Ihr nicht, wo der gläserne Berg ist?« »Ich weiß es nicht, aber vielleicht weiß es einer meiner Knechte«, antwortete der Herr. Er zog dann eine silberne Pfeife hervor und that darauf einen lauten Pfiff. Da kamen Bären, Wölfe und nach und nach allerlei Thiere daher. Zuletzt hinkte ein alter Hase auf drei Füßen herbei. »Weißt du, wo der gläserne Berg ist?« fragte ihn sein Herr. »Freilich weiß ich ihn«, antwortete der Hase. »So führe diesen Mann dahin«, sagte der Herr. Alsbald ging Hans mit dem Hasen fort. Als sie in einen großen Wald kamen, sagte der Hase: »Geh' nur gerade aus, du wirst den Berg schon finden.« Und nach diesen Worten sprang er auf und davon.

Hans mußte nun allein wandern. Als er eine Weile gegangen war, sah er ein totes Pferd am Wege liegen. Bei dem Pferde befanden sich ein Bär, ein Wolf, ein Rabe und eine Ameise. Diese Thiere stritten sich um den Leichnam. Als Hans näher kam, sprach der Rabe: »Lieber Hans, theile das Pferd unter uns.«

Hans machte sich sogleich an die Arbeit. Zuerst schnitt er den Kopf des Pferdes ab und warf ihn der Ameise vor, indem er sagte: »Du kriechst gern in Höhlungen umher, da nimm den Kopf.« Darauf öffnete er den Leichnam und gab dem Raben die Eingeweide, dem Wolfe die Knochen und dem Bären das Fleisch. Die Thiere waren mit der Theilung zufrieden. Darauf gaben der Bär und der Wolf Hansen jeder[223] ein Haar, die Ameise einen Fuß und der Rabe eine Feder. Die Thiere sprachen: »Wenn du in der Noth bist, so lege das Geschenk unter die Zunge und du kannst dich dann in dasjenige Thier verwandeln, von dem das Geschenk herrührt.« Dann entfernten sie sich. Hans aber ging auf der Straße fort. Als er eine Weile gegangen war, bemerkte er in der Ferne ein Leuchten und Blitzen. Das war der gläserne Berg. Fröhlich ging Hans bis an den Fuß des Berges. Auf dem Gipfel desselben stand ein schönes Schloß. Hans versuchte es, den Berg zu ersteigen, aber es war vergebens; er glitt immer wieder abwärts, denn der Berg war spiegelglatt. Nun verwandelte er sich in einen Bären und grub mit seinen Tatzen Stufen in den Berg. Allein die scharfen Glassplitter verwundeten ihn, und bald konnte er die Arbeit nicht mehr fortsetzen. Dann verwandelte Hans sich in einen Wolf, um sich mit den Zähnen festzuhalten. Allein auch das ging nicht. Er verwandelte sich daher in einen Raben und flog den Berg hinan. Als er oben war, sah er das ihm bekannte Mädchen an einem offenen Fenster stehen. Schnell flog er zum Fenster hinein. Das Mädchen sagte: »Meine Mutter ist eine Hexe. Peinige sie auf alle mögliche Weise, so lange bis sie dir erlaubt, mich zu heiraten.« Und als sie das gesagt hatte, ging sie aus dem Zimmer. Hans aber verwandelte sich in eine Ameise und kroch unter das Bett, in dem die Alte zu schlafen pflegte. Als es dunkel wurde, kam die Hexe und legte sich zu Bett. Und als sie eingeschlafen war, kroch Hans, in eine Ameise verwandelt, in's Bett, und biß und kneipte die Alte am ganzen Körper. Als aber der dritte Tag anbrach, erwischte ihn die Hexe, als er eben aus dem Bette kriechen wollte. »Ich weiß, daß du keine gewöhnliche Ameise bist«, sagte sie und verwandelte ihn in einen Menschen. »Was willst du?« sprach sie weiter. »Ich will deine mittlere Tochter heiraten«, antwortete Hans. »Ich will sie dir geben, aber du mußt dir das Mädchen auch verdienen«, sagte die Hexe.[224]

»Erstens mußt du ein Ei austrinken, ohne es zu durchlöchern.« Und sie gab ihm ein Ei und entfernte sich. Hans verwandelte sich in eine Ameise, biß eine kleine Öffnung in die Eischale und trank den Inhalt des Eies aus. Dann verstopfte er die Öffnung mit Kalk, verwandelte sich in einen Menschen und trug das leere Ei zur alten Hexe. »Gut«, sagte diese. »Eine Viertelstunde von hier befindet sich ein großer, großer Wald. Diesen mußt du binnen drei Tagen umhauen, die Stämme in Stücke zerschlagen und dann aufschichten.«

Hans ging hin und besah sich den Wald. Vom Ansehen war er schon so müde, daß er sich unter einen Baum legte und einschlief. Als er erwachte, sprang er auf, rieb sich die Augen, sah um sich, aber kein Wald war zu sehen. Dagegen lagen etliche tausend Klafter Kleinholz an der Stelle des Waldes.

Da rief die Stimme seiner Braut: »Während du schliefest, habe ich die Arbeit vollbracht. Ich werde dir auch bei der dritten Aufgabe helfen.«

Hans ging nun zur Hexe und sagte ihr, daß er die Arbeit gethan habe. »Gut«, sagte sie, »morgen trage das Holz auf einen Haufen zusammen. Ich werde dann hinauskommen, um es anzuzünden. Steht der Holzstoß in lichten Flammen, so mußt du mitten in's Feuer springen. Thust du das nicht, so darfst du meine Tochter nicht heiraten.« Hans ging traurig zu Bette. Des andern Tages begab er sich auf den Holzplatz. Emsig schichtete er die Holzscheiter übereinander auf. Kaum war er damit fertig, so kam die Hexe daher und zündete das Holz an. Als der Scheiterhaufen über und über brannte, nahm Hans einen Anlauf, um in's Feuer zu springen. Allein sobald er in die Nähe der Flammen kam, blieb er stehen. So machte er es mehrmals. Da hörte er plötzlich die Stimme seiner Braut, welche rief: »Spring! spring!« Nun nahm sich Hans zusammen und sprang mitten in die Flammen. Die[225] glühenden Kohlen flogen auseinander, und Hans blieb unversehrt.

Wo eine Kohle hinfiel, erhob sich ein Haus. Und so entstand eine große, schöne Stadt.

In der Mitte derselben, dort wo der Scheiterhaufen gestanden hatte, befand sich ein großes, schönes Schloß. Dieses war aus Karfunkel erbaut.

Am Thore desselben stand Hansens Braut. Hans heiratete nun und wurde Herr des Schlosses und König der Stadt.

Er nahm seine arme Mutter zu sich und pflegte sie in ihrem Alter.

Wer war glücklicher als Hans! Und wenn er nicht gestorben ist, so lebt er gewiß heute noch.[226]

Quelle:
Vernaleken, Theodor: Kinder- und Hausmärchen dem Volke treu nacherzählt. 3.Auflage, Wien/Leipzig, 1896 (Nachdruck Hildesheim: Olms, 1980), S. 222-227.
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