Vom Vogel, der Milch gab

Vom Vogel, der Milch gab.
Kaffernsage, dem Jesuitenpater Torrend nacherzählt.

[158] Es sagte einmal ein Mann zu seinem Weibe:

»Gehe zu hacken aufs Feld!«

Sie ging, hackte und kehrte dann nach Hause zurück. Darauf kam ein Vogel zu dem Platze, der umgehackt war, und sang:


»Schieß empor, Gras, auf diesem Felde!

Schieß empor, Gras, von diesem Vogel!«


Und das Gras kam hervor; es war, als wäre kein Fleckchen auf dem Felde umgehackt worden.

Der Mann kam hin, sah das Gras und fragte darauf sein Weib:

»Wo hast du gehackt?«

Das Weib wies auf den Flecken Land, auf dem es gearbeitet hatte und sprach:

»Hier habe ich gehackt.«

Der Mann entgegnete:

»Du lügst, du hast nicht umgehackt!« Und er schlug sie mit dem Hackenstiele, daß sie weinte. Sodann rief er:

»Komm', wir wollen hacken!«

Sie hackten und hackten und gingen endlich nach Hause.[159]

Wieder kam der Vogel und sang:


»Schieß empor, Gras, auf diesem Felde!

Schieß empor, Gras, von diesem Vogel!«


Und ach! – es war, als wäre kein Fleckchen Land umgegraben worden.

Des anderen Morgens kamen der Mann und die Frau und sahen nichts vom umgehackten Platze. Da sagte das Weib:

»Wo ist nun die Arbeit, die wir gestern verrichtet haben?«

Der Mann versetzte:

»O, ich weiß, wie das zugeht, Frau; begrabe mich jetzt im Boden und laß nur allein meine Hand herausragen.«

Das Weib tat es und ging heim. Der Vogel kam und pickte hier und dort herum, bis er auf die Hand des Mannes trat, der ihn nun festhielt.

Der Vogel sprach:

»Laß mich los; ich bin ein Vogel, der Milch gibt!«

Der Mann antwortete:

»So gib jetzt Milch, mein lieber Vogel, damit ich mich davon überzeugen kann!«

Und wirklich gab der Vogel ihm saure Milch auf die Hand.

Da nahm der Mann den Vogel mit sich heim und gebot seinem Weibe, einen Milcheimer auszuwaschen und den Vogel hineinzusetzen. Nachdem die Frau getan hatte, was ihr Mann ihr befohlen, füllte der Vogel den Eimer mit Milch. Darüber waren der Mann und die Frau hocherfreut; denn sie waren sehr hungrig und hatten nun vollauf zu essen. Nachdem sie gesättigt waren, gingen sie aufs Feld, um zu arbeiten, und ließen ihre beiden Kinder[160] daheim. Das ältere der Kinder hieß Ngeneu, das jüngere Notuneu.

Ngeneu sagte:

»Wir wollen zu anderen Kindern gehen und ihnen von dem Vogel erzählen!«

Notuneu erwiderte:

»Unser Vater sagte, er würde uns töten, wenn wir von dem Vogel zu anderen Kindern redeten.«

Darauf wurde Ngeneu zornig und rief:

»Schweig, du Lügnerin!«

Notuneu fürchtete ihren Bruder und gab deshalb schließlich seinem Drängen nach. Als Ngeneu nun den anderen Kindern von dem Vogel erzählt hatte, sprachen diese:

»Wir wollen zu dem Vogel gehen!«

Als sie hingekommen waren, nahmen sie ihn aus dem Melkeimer, und Nguneu schrie laut:

»Seht diesen Vogel an, der uns gehört!«

Da sagte der Vogel:

»Wenn ich euch gehöre, so bringe mich in den Kraal hinein.«

Der Knabe nahm ihn also mit in den Kraal. Da verlangte der Vogel, auf den Zaun gesetzt zu werden. Als er aber dorthin gebracht war, flog er auf und davon. Notuneu weinte laut und rief:

»Siehst du, nun wird unser Vater uns töten! Sieh' nur, wie er davonfliegt.«

Die Kinder, die gekommen waren, den Vogel zu sehen, liefen flugs fort und ließen sich nicht mehr blicken.

Der Vogel sang mit schallender Stimme im Fliegen:

»Ngeneu und Notuneu haben mich herausgelassen!« Und dieselben Worte sang er noch, als er dicht bei dem[161] Vater der Kinder vorbeikam. Die Mutter hörte es und sprach:

»Das ist dein Vogel; er sagt Ngeneu und Notuneu haben ihn herausgelassen.«

Der Mann aber entgegnete:

»Wie kannst du nur so reden! Unsere Kinder würden nie wagen, so gegen meinen Befehl zu handeln.«

Darauf gingen sie heim. Dort angelangt, ging die Frau sofort zu dem Melkeimer, schaute hinein und fand richtig keinen Vogel darin. Der Mann rief sofort nach den beiden Kindern, und fragte sie nach dem Verbleib des Tieres. Notuneu sprach:

»Ngeneu hat den Vogel fliegen lassen.«

Da brachte der Vater einen Strick und schwor, er wolle die ungeratenen Kinder töten. Diese brachen in Weinen und Klagen aus, und auch ihre Mutter rang verzweifelt die Hände.

»Willst du, Vater des Ngeneu und der Notuneu, wirklich um des Vogels willen deine Kinder töten?« rief sie.

Der Mann aber war nicht zu erweichen, sondern drohte:

»Wenn du so weiter redest, werde ich dich mit ihnen töten!«

Da schwieg sie still und sah, wie ihr Mann den Strick um den Hals seiner Kinder legte und sie an dem Aste eines Baumes aufhängte, der weit über einen tiefen Fluß hinüberragte. Der Strick zerriß jedoch, die Kinder fielen in das Wasser und versanken in der Tiefe, wo sie in Flußgötter verwandelt wurden und dadurch die Gabe erhielten, den Fluß anschwellen zu lassen.

Einst wurde das Land von einem benachbarten feindlichen Stamme überfallen. Die Weiber und Kin der des[162] Landes waren in großen Schrecken und suchten durch den Fluß zu entkommen. Als sie aber den Fuß ins Wasser gesetzt hatten, schwoll es plötzlich hoch an, und sie konnten nicht weiter laufen. Da riefen sie:

»Ngeneu und Notuneu, laßt uns über das Wasser, damit wir unseren Feinden entrinnen!«

Das Wasser schwand, und sie stiegen in den Fluß hinein. Als aber, während sie halbwegs hindurch waren, auch der Vater, welcher seine Kinder hatte töten wollen, in den Fluß gekommen war, füllten sie denselben wieder mit Wasser an. Da riefen ihm die anderen Männer laut zu:

»Geh' du hinaus zur Strafe dafür, daß du deine Kinder morden wolltest.«

Er ging heraus, und alsbald trocknete der Fluß wieder aus. Die anderen Männer aber gingen sodann durch den Fluß hindurch, während jener Mann allein zurückblieb. Als der Feind ganz nahe war, erhob auch er seine Stimme, indem er sprach:

»Ngeneu und Notuneu, macht mir doch auf!«

Die aber sagten:

»Wie? Dir sollten wir aufmachen, nachdem du uns aufgehenkt hast!«

Da brach er in lautes Geschrei aus, und der Feind kam und erschlug ihn. So endete der Mann, welcher der Milch wegen seine Kinder zu ermorden gesucht hatte. Diese aber kamen aus dem Flusse heraus, um ihre Mutter aufzusuchen. Nachdem sie dieselbe gefunden, blieben sie bei ihr, behielten aber immer die Gabe, in die Flußtiefe zu gehen und das Wasser an- und abschwellen zu lassen.

Quelle:
Held, T. von: Märchen und Sagen der afrikanischen Neger. Jena: K.W. Schmidts Verlagsbuchhandlung, 1904, S. 158-163.
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