Der Löwe und der wilde Hund

[319] Der Löwe sprach zum wilden Hunde, daß er niemanden im Walde fürchtete außer Bäumen, Blättern, Gras, Fliegen und Erde1. Da sprach der wilde Hund: »Ich kenne einen, der sicherlich stärker ist als du.« Darauf erwiederte der Löwe: »Ich töte die Jungen des Elefanten, den wilden Büffel und den Leoparden und bringe sie meinen Kindern zur Speise. Wenn ich brülle, zittern alle Tiere des Waldes, keiner ist größer als ich in diesem Walde.«

Der wilde Hund sprach: »Da du meinst, daß du niemanden in diesem Walde fürchtest, so komm und zeige mir dein Haus, damit ich zu dir komme und dich rufen kann, um dir einen Ort zu zeigen, wo ein schwarzer Vogel zu fressen pflegt, sobald ich ihn wiedersehe.« Der Löwe nahm den wilden Hund mit, zeigte ihm seine Wohnung, worauf dieser nach Hause ging.

Am nächsten Tage kam ein Jäger in den Wald. Als der wilde Hund ihn sah, eilte er nach des Löwen Haus und sprach zu diesem: »Bruder Löwe, komm und[319] folge mir, ich will dir dann zeigen, was ich gesehen habe.« Der Löwe machte sich auf und folgte ihm, und als sie an die Stelle kamen, wo der Jäger war, hatte sich dieser bereit gemacht und sein Jagdkostüm angelegt. Er hatte einen langen Vogelschnabel an seine Mütze genäht, diese auf den Kopf gestülpt und ging wie ein Vogel. Als der wilde Hund seiner ansichtig wurde, sprach er zum Löwen: »Bruder Löwe, da ist der schwarze Vogel, geh' und fasse ihn, und wenn du ihn hast, so gieb mir eins von seinen Beinen, denn ich brauche es zu einem Zauber.« Als der Löwe dies gehört hatte, schlich er leise auf die Stelle zu, wo der Vogel war, der wilde Hund aber machte sich aus dem Staube. Der Löwe hatte sich vorgenommen, den Vogel zu töten, hatte aber nicht bemerkt, daß der Jäger, als er ihn erblickte, einen Pfeil herausnahm und sich schußfertig gemacht hatte. Als er daher nahe an den Jäger herangekommen war, schoß dieser einen Pfeil ab und traf ihn. Der Löwe fiel zu Boden, sprang wieder auf, fiel wieder zur Erde und so mehrere Male, bis das Gift am Pfeil zu wirken anfing und den Löwen betäubte. In demselben Augenblick war der Jäger verschwunden, so daß er ihn nicht mehr sah. Da faßte der Löwe wieder Mut und schleppte sich langsam nach Hause. Als er zu Hause angelangt war, sprach der wilde Hund zu ihm: »Bruder Löwe, du sagtest mir doch, daß du niemanden in der Welt fürchtest außer Gott und Schmutz. Warum hast du denn den schwarzen Vogel nicht gefangen, den ich dir gezeigt habe und ihn deinen Kindern gebracht?« Der Löwe erwiederte: »Er war stärker als ich.«

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D.h. Schmutz.

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Geschichten und Lieder der Afrikaner. Berlin: Verein der Bücherfreunde, Schall & Grund, 1896, S. 319-320.
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