Die freie Frau und die Sklavin.

[53] Ein Mann lebte mit seiner Frau und seiner Sklavin zusammen. Seine Frau gebar ihm Kinder, und auch mit seiner Sklavin zeugte er Kinder. Ihr Gesicht war bei allen dasselbe; selbst die Hautfarbe der Sklavin und jener Frau war die gleiche; ihre Aehnlichkeit war gross.

Später starb jener Mann, und seine Erben beanspruchten ihr Erbe. Sie nahmen jene Mutter, die Sklavin, und sprachen: »Du bist noch in der Sklaverei; Du hast zwar mit unserm Vater gezeugt, aber er hat Dich noch nicht frei gegeben.« Die Sklavin sprach jedoch: »Ich bin Eure Herrin, ich bin keine Sklavin, die Sklavin ist die andere.«

So entstand ein grosser Streit, und alle wurden vor die Richter gebracht. Als sie dorthin kamen, wusste man nicht, welche die Herrin, welche die Sklavin war; denn ihre Gesichtsfarbe war gleich hell.

Schliesslich hatte ein alter Mann unter ihnen einen guten Vorschlag. Jene Sklavin und ihre Kinder wurden vorgeführt und in ein dunkles Zimmer gesteckt und jene Freie mit ihren Kindern wurde gleichfalls in einem dunklen Zimmer untergebracht: in jedem Zimmer stand Essen.

Als die Sklavin mit ihren Kindern Hunger bekam, assen sie im Dunkeln; die Freien wurden gleichfalls hungrig, aber sie klopften an die Thür und verlangten Licht, damit sie essen könnten.

Als später beide Zimmer geöffnet wurden, fand man, dass die Sklavin mit ihren Kindern alles aufgegessen[53] hatte, während die Freie mit ihren Kindern noch nichts angerührt hatte. Da sprach jener Alte: »Fürwahr, dies sind die Sklaven, welche im Dunkeln gegessen haben.«

Quelle:
Velten, C[arl]: Märchen und Erzählungen der Suaheli. Stuttgart/Berlin: W. Spemann, 1898, S. 53-54.
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