Recht eigentliche Volkspoesie (Nr. 115–135).

[155] 115. Ich habe eine Rose über unserm Brunnen; wenn der Wind weht, da senkt sie sich. Ich habe eine Rose über unsrer Cisterne; wenn der Wind weht, da antwortet sie auf meine Fragen.

116. Ach, Arger über meinen Ohrreif! Sein Ring ist zerbrochen. Da will ich zu meiner Mutter gehen und mir einen neuen holen.

117. Juchhe! Bei dem Haupte des Mädchens, ich halt's nicht mehr aus! Ich komme, ich komme tu dir! Gegen das Ende der Nacht will ich bei dir anklopfen. Gott führe dich in meine Arme und mache dein böses Herz mir gehorsam!

118. Komm her, lieber Marokkaner, komm her in unser Haus! Wenn du dich vor meinem Hunde fürchtest, – nun, der liegt an der Kette. Wenn du Angst vor meinem Vater hast, – der ist schon ein Jahr fort. Hast du Angst vor meiner Mutter, – ach, die kann Liebesgeschichten ganz gut leiden. Fürchtest du dich vor Gott, – so will ich dich unter das Betttuch stecken.

119. Ich meinte doch, du seist ein Mensch und wüsstest, was sich schickt. Nein! Besser als du ist ein Mensch, der zähe wie Wachholderholz ist, an dem die Beile stumpf werden!

120. Ach, die Wunden, die mir der Arger über mei nen Stiefsohn macht, kann der Arzt nicht heilen! Dort neben dem Backtopfe sitzt der Junge, mit seiner Hässlichkeit und seinen garstigen Augen; er wartet auf das warme Brot. Hab' ihm etwas an, du Heiliger der Olivenmoschee, der du stets beistehst und hilfst und nicht fern bleibst! Jetzt sitzt jener nun wieder dort hinter dem grossen Kessel und zeigt mir seinen hässlichen Kopf schief von der Seite. Bring du mir eine Hacke und eine Axt und hab' ihm etwas an, heiliger Belabbas, der du stets beistehst und hilfst und nicht fern bleibst!

121. Ein Bote kam zu mir, und ich begann nachzudenken, was ich ihm zu sagen hätte, Mutter!

Dann kam der Freund selbst zu mir ins Zimmer. Ich brannte die Lampe an und goss Öl auf. Er hatte ein Stück Sackleinewand über seinem Kopfe. Ich konnte nicht erkennen, wessen Kind er war.[155]

Dann kam er in die Hütte und gab mir sieben Thaler. Moschus hatte er in seiner Tasche und Wohlgerüche gab er mir zur Eröffnung.

Dann kam er zu mir in die Küche, der Dunkle mit seinen pechschwarzen Augen. Wir sind quitt. Er biss mich in die Lippe und die Brust.

Dann kam er zu mir in den Garten und fand mich Mais säen. Er sprach zu mir: »Du böses Mädchen, zeigt deine Saat schon längere Stengel?«

Dann kam er zu mir auf unser Dach. Wir hatten die Dachthüre geöffnet und waren hinaufgestiegen. Betrunken kollerten wir uns umher. Er liess mich ganz verwirrt zurück.

Dann kam er zu mir ins Haus mit einem breiten Säbel und zwei kleinen Pistolen, auch einen kleinen Dolch hatte er, der war, gezückt, der Inhalt seiner Hand.

122. Mutter, gieb mir eine Karrube! Ich will mir dafür ein Fischchen kaufen. Die Franzosen sind nach Manuba gekommen und haben am Morgen einen Marsch geblasen.

Mutter, gieb mir einen Piaster! Ich will mir dafür einen Shawl kaufen. Die Franzosen sind nach Kairuan gekommen und haben am Morgen einen Marsch geblasen.

Mutter, gieb mir zwei Karruben! Ich will mir dafür ein Stückchen Käse kaufen. Die Franzosen sind in die Berge gezogen und haben am Morgen einen Marsch geblasen.

123. Die bauschige Soldatenmütze ist fortgeflogen und hat sich nach dem Berge Matmata begeben. Da bekommt sie aber nur Kartoffeln zu essen und kleine Mehlbrödchen. Wo ist doch die bauschige Soldatenmütze? Mein Gott, wo steckt sie doch? Die bauschige Soldatenmütze ist wieder zu uns gekommen; nun sind wir glücklich und zufrieden!

124. Du Kurze, du Lange, du Viertelchen von Malta, ich werde dich in ein Schiff setzen und nach Malta befördern!

125. Ach, du aus Monastier-tier-tier, du Rattenschlachter! Ich werde dich in den Backtopf setzen und dir einheizen!

126. Ach du aus Dscherba, du bist noch sehr jung und kannst nicht lang Abends wachbleiben! Ja, du aus Dscherba, dein Laden ist eingefallen; geh lieber in deine Heimat zurück und ruhe dich da aus!

127. Wenn die Katze schnurrt, so singt sie: »Als meine Mutter[156] und mein Vater noch am Leben waren, ass ich immer Fleisch; dann starben meine Mutter und mein Vater, und nun kann ich nur an Knochen knappern!«

128. So einer alten von den Urahnen möge Gott nicht gnädig sein am Tage, wo sie stirbt! Denn sie betet und redet und befördert einem Hunde die Zähne aus dem Maule, während er bellt. Lahm hüpft sie an den Mauern entlang, stinkmäulig zermalmt sie ohne Zähne Bohnen, blind spinnt sie Lein, taub bringt sie ihr Geklatsch von überall her.

129. Im Februar sprossen die Bäume, Nacht und Tag sind fast gleichlang, die Vögel paaren sich, und es zeigt sich, was vom Vieh nicht trägt, und was trägt.

130. Im März jäte dein Feld und gieb Achtung; denn du kannst Rebhühner- und Haubenlercheneier finden!

131. Im April sprosst der Halm selbst aus des Brunnens hartem Grunde.

132. Im Mai mähe dein Feld, wenn es grüngelb wird!

133. Im December iss und kaure dich an den Ofen!

134. Der Sommer ist ein Gast, der Frühling ein Traum, der Winter gar hart, da alles so flau ist; der Herbst aber ist das Beste vom Jahre.

135. Der Sommer sagte: »Zu meinen Gunsten sprechen meine Garben.« Der Frühling sagte: »Für mich sprechen meine Blumen«. Der Herbst sagte: »Für mich meine Früchte.«

Der Winter sagte nichts. Man fragte ihn: »Was ist's mit dir, dass du nichts sagst?« Da sprach der Winter: »Ich will nicht lügen und keine Prahlerei reden! Ich lasse den Vorrat nicht in der Schüssel. Ich bin einer, der die Bullen kastriert; meine drei (Monate) erschlaffen die neun übrigen!«[157]

Quelle:
Stumme, Hans: Tunisische Märchen und Gedichte. Leipzig: Hinrich: 1893, S. 155-158.
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