[29] 8. Die Zauberrasseln

Eines Tages ging ein Mann mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen in das benachbarte Dorf, um an einem Trinkfest teilzunehmen. Ihre beiden Töchter blieben zu Hause und bereiteten Kaschiri. Als sie nun zum Bache hinunterschlenderten, um Wasser zu holen, hörten sie einen eigenartigen Schrei. Es war Siwara, der Waldgeist, der sie absichtlich irreführte, indem er den Schrei eines großen Habichts nachahmte. Sie forderten den Habicht in der üblichen Weise heraus, indem sie riefen: »Schreie nicht, sondern zeige dich oder töte etwas für uns!« Sie sahen nichts und hörten nichts weiter.

Als sie wieder zu Hause waren und sich eine Weile ausgeruht hatten, näherte sich ein junger Mann dem Hause. Er begrüßte sie mit »Guten Tag, Basen!« und trat ein. »Wo sind euere Eltern?« fragte darauf der Fremde. Es war niemand anderes als Siwara, welcher der Aufforderung, sich zu zeigen, gefolgt war. Die Mädchen erzählten ihm, daß die anderen alle fort seien zu einem Trinkfest, und boten ihm Kassawa und Getränk an. Nachdem er davon genossen hatte, sagte ihnen Siwara, sie sollten gehen und das Hokkohuhn hereinholen, das er ihnen mitgebracht hätte. Danach bat er sie, seine Hängematte hereinzubringen, da er die Nacht über dableiben wolle. Sie holten die Hängematte und hingen sie in dem Ende des Hauses auf, das am weitesten von ihrer[29] Schlafstelle entfernt war. Da sagte er: »Fürchtet euch nicht! Ich werde euch nicht stören.« Und er sprach wahr. Die Mädchen schliefen die ganze Nacht hindurch, ohne von ihm gestört zu werden. Früh am nächsten Morgen kehrte Siwara in den Wald zurück, aber bevor er Abschied nahm, verbot er ihnen, ihren Eltern von seinem Besuch zu erzählen.

Nicht lange danach kamen die Eltern zurück. Als sie das geröstete Hokkohuhn sahen, riefen sie aus: »Wie seid ihr denn dazu gekommen?« Die Mädchen logen und sagten: »Wir sahen einen großen Habicht, der es erbeutet hatte, und nahmen es ihm weg.« Nach und nach wurde das Hokkohuhn gekocht und gegessen, und als der alte Vater einen Bissen davon kaute, den er gerade aus dem Topf geholt hatte, biß er auf das Stück eines Blasrohrpfeils. Da wandte er sich an seine Töchter und fragte: »Wenn ein Habicht den Vogel tötete, wie kommt der Pfeil hinein?« Nun mußten sie gestehen, daß ihr Onkel ihnen das Hokkohuhn gebracht hätte. »Warum habt ihr das nicht gleich gesagt?« rief der Alte. »Warum ließet ihr mich nicht wissen, daß er euch besuchte, während wir fort waren? Geht gleich und ruft ihn herein!« Die Mädchen gingen hinaus und riefen: »Daku! Daku!« (»Onkel! Onkel!«), und Siwara hörte sofort auf ihren Ruf. Als er eintrat, hieß ihn der Hausherr willkommen, und er setzte sich nieder auf den Schemel, der ihm angeboten wurde. »Danke, danke!« rief er aus. »Ich war gestern hier und leistete den Mädchen Gesellschaft.« Nun war der alte Vater, der von dem Trinkfest kam, noch reichlich benebelt und wußte kaum, was er tat. Obgleich er nicht die leiseste Ahnung hatte, wer Siwara eigentlich war, bot er ihm seine älteste Tochter an, vorausgesetzt, daß sie ihm gefiele. Es traf sich, daß sie Siwara sehr gut gefiel, und er wandte sich daher an die Mutter und fragte sie, ob sie ihn als Schwiegersohn haben möchte. Sie sagte: »Ja, sehr gern.« Und so geschah es, daß der Waldgeist eine Frau bekam und mit ihr im Hause seines Schwiegervaters seinen Wohnsitz nahm.

Siwara erwies sich als ein sehr guter Gatte und Schwiegersohn.[30] Von jedem Jagdzug kehrte er beladen mit Wildbret heim. Er machte sich auch die Mühe, den Brüdern seiner Frau zu zeigen, wie man Wildschweine schießt. Früher brachten diese zwei Burschen oft einen Vogel heim und sagten, sie hätten ein Wildschwein gebracht. Sie wußten eben nicht, was ein Wildschwein war. Da nahm er sie eines Tages mit, und als sie einen geeigneten Platz erreicht hatten, schüttelte er seine Rassel, und herbei eilten die Wildschweine, gehorsam seinem Rufe. »Dies sind Schweine! Schießt!« sagte Siwara, aber die beiden Brüder, die nie zuvor ein Wildschwein gesehen hatten, fürchteten sich und kletterten auf einen Baum. Da mußte er selbst drei oder vier töten, und diese nahmen sie dann später mit nach Hause.

Die Zeit verging. Nachdem seine Frau ihm ein Kind geschenkt hatte, wurde Siwara anerkannter Erbe des Besitzes ihrer Familie und brachte auch sein Eigentum, das er bis jetzt im Walde gelassen hatte, in das Haus seines Schwiegervaters. Dieses galt fortan als sein eigenes Heim.

Unter den Sachen, die er in sein neues Heim mitbrachte, befanden sich vier Rasseln, die nur zur Wildschweinsjagd gebraucht wurden. Es gibt zwei Arten Schweine, eine harmlosere und eine sehr gefährliche. Für jede Art hatte er ein Paar Rasseln, eine Rassel, um die Tiere herbeizurufen, die andere, um sie fortzutreiben. Nachdem er die Rasseln aufgehängt hatte, warnte er die Verwandten seiner Frau dringend, diese Rasseln während seiner Abwesenheit zu berühren, weil daraus großes Unglück entstehen würde.

Bald darauf ging Siwara fort, um ein Feld zu roden. Während er fort war, kamen seine Schwäger zurück. Sie sahen die schönen, mit Federn verzierten Rasseln alle in einer Reihe hängen und konnten der Versuchung nicht widerstehen, eine herunterzunehmen, um sie genau zu betrachten. In ihre Betrachtung vertieft, vergaß der Schwager ganz das Verbot und begann sie zu schütteln. Aber ach! es war die falsche Rassel, die für die bösen Wildschweine! Und nun kamen diese wilden Bestien in Scharen von nahe und fern herbei[31] und ließen der jungen Mutter, den zwei Brüdern und den alten Leuten kaum Zeit, sich auf die nächsten Bäume zu flüchten. In der Eile und Aufregung hatte die Mutter jedoch ihr Kind vergessen, das die Schweine in Stücke rissen und verschlangen. Als sie sahen, was sich unten ereignete, schrien die Flüchtlinge und riefen nach Siwara, er solle schnell kommen und all die Tiere vertreiben, damit sie in Sicherheit heruntersteigen könnten. Siwara kam, schüttelte die richtige Rassel und trieb die Tiere fort. Als alle herabgestiegen waren und mit ihm zusammentrafen, suchte er nach seinem Kindchen. Aber er fand es nicht. Da tadelte er sie, daß sie seinem Gebot nicht gefolgt wären, und war so ärgerlich, daß er sie verließ. – Es ist jetzt schwer für sie, Nahrung zu bekommen.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 29-32.
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