[251] 90. Die Jaguarin, die ihre Enkel fraß

Ein Kaschinaua ging in den Wald jagen und sah von ferne eine Urikurypalme. Die Früchte fielen von der Urikury, und die Jagdtiere aßen sie. Der Kaschinaua beobachtete es eine Zeitlang und kehrte dann heim.

Als sich die Sonne neigte, nahm er sein Weib mit und machte auf der Urikury eine Hütte, um zu jagen. Er reinigte den Wald, damit sein Weib sich hinsetzen konnte, und ging weg. »Warte auf mich!« sagte er. »Ja,« erwiderte sie und setzte sich nieder. Ihr Mann aber ging weg, um Palmblätter zu holen.

Da kam ein Jaguar, erblickte das Weib und fragte sie: »Was machst du denn da? Warum sitzt du denn hier?« »Mein Mann hat auf der Urikury eine Jagdhütte gebaut und mich mitgenommen. Dann ist er weggegangen, um Palmblätter zu holen. Ich sitze hier und warte auf ihn.« Darauf erwiderte der Jaguar: »Bleib nicht hier sitzen! Ich nehme dich mit, um dir mein Haus zu zeigen!« Er nahm die Frau auf den Rücken und ging mit ihr weit, weit weg in sein Haus. Dort war Wildbret in Fülle vorhanden. Viel Rostbraten gab er ihr, und die Frau setzte sich hin und aß.

Die Mutter des Jaguars war weggegangen, Feldfrüchte zu holen. Als sie heimkam, erblickte sie die Frau und wollte sie töten und fressen. Sie knurrte und knurrte. Da sprach ihr Sohn: »Mutter, ich habe das Weib mitgebracht, um mich mit ihr zu verheiraten. Friß sie mir nicht!« »Ja,« erwiderte die Jaguarin. Sie beroch den ganzen Körper der[251] Frau, sie beroch ihren Kopf, ihr Gesicht, ihre Hände, ihre Füße. Sie schnupperte an ihrem ganzen Körper herum. Die Frau fürchtete sich und saß da und weinte. Da sagte der Jaguar: »Weine nicht! Meine Mutter frißt dich nicht.«

Dann heiratete er sie und behandelte sie gut. Er ließ sie selten von sich und ging immer mit ihr. Da wurde sie schwanger und gebar einen Sohn. Sie legte ihn in die Hängematte und legte sich selbst nieder.

Der Mann aber sprach zu seinem Weib: »Laß unsern Sohn nicht allein! Nimm ihn immer mit dir! Sonst frißt ihn meine Mutter.« Sie versprach es und tat, wie ihr Mann gesagt hatte. Wenn sie Feldfrüchte holte, nahm sie den Sohn mit; holte sie Wasser, nahm sie ihn mit; ging sie weg, um ihr Bedürfnis zu verrichten, nahm sie ihn mit.

Dann lernte der Sohn aufrecht stehen und lief hin und her. Seine Mutter ging Wasser holen und überließ das Kind ihrer Schwiegermutter.

»Schwiegermutter,« sagte sie, »gib auf meinen Sohn acht, während ich Wasser hole!«

Die Jaguarin versprach es und setzte sich nieder. Die Frau ergriff den Topf und ging weg. Da erhob sich die Jaguarin, tötete ihren Enkel und fraß ihn auf. Dann setzte sie sich wieder hin.

Als die Schwiegertochter zurückkam, begann sie ihren Sohn zu suchen und fragte ihre Schwiegermutter:

»Schwiegermutter, wo ist dein Enkel? Ich habe ihn dir doch anvertraut, als ich wegging!«

Da sagte diese, die ihn aufgefressen hatte: »Ich habe meinen Enkel nicht gesehen.«

Die Mutter machte sich auf die Suche nach ihm. Sie lief weit, aber sie fand ihren Sohn nicht. Sie suchte, bis sie müde wurde. Da legte sie sich hin und weinte.

Darauf kam ihr Mann von der Jagd zurück und fand seine Frau in Tränen. Er fragte sie: »Wo ist unser Sohn?«

Sie antwortete: »Ich war Wasser holen und überließ ihn, während er hin und her lief, deiner Mutter. ›Gib mir acht[252] auf das Kind!‹ sagte ich und ging weg. Als ich zurückkam, fand ich ihn nicht mehr vor und habe ihn gesucht.«

Darauf sagte er: »Meine Mutter hat uns unsern Sohn gefressen!« Und er prügelte seine Mutter fürchterlich, legte sich hin und weinte.

Wiederum gebar sie ihm einen Sohn, aber seine Mutter fraß auch diesen. Da wurde er wütend und wollte seine Mutter töten, aber sie hatte einen sehr harten Körper.

Er schoß einen Pfeil auf sie ab, aber der Pfeil fiel zerbrochen nieder; er wollte sie mit einem Wurfspeer durchbohren, aber der Wurfspeer fiel zerbrochen nieder; er wollte sie mit dem Bambusdolch erstechen, aber der Dolch zerbrach; er schlug sie mit einer Keule, aber die Keule zerbrach; er schlug sie mit einem Prügel, aber der Prügel zerbrach; er schlug sie mit einer Axt, aber die Axt zerbrach; er schlug sie mit einem Waldmesser, aber das Waldmesser zerbrach; er stach nach ihr mit einem Messer, aber das Messer zerbrach.

Da fragte er seine Mutter: »Wie kann ich dich denn töten, Mutter?«

»So nicht,« erwiderte sie. »Wenn du mich töten willst, dann sammele Brennholz, mache einen Scheiterhaufen, zünde ihn an und stoße mich in die Flammen, damit ich verbrenne!«

Der Sohn tat, wie ihm geheißen war. Er sammelte Brennholz, machte einen Scheiterhaufen und zündete ihn an. Darauf belehrte ihn die Mutter und sprach:

»Mein Sohn, wenn du mich verbrannt hast, werden alle unsere Verwandten kommen und um mich trauern. Dann verbirg dich gut; sonst werden sie dich und deine Frau töten!«

So sagte sie, und er versprach es.

Das Holz brannte und brannte, und als die Flammen emporschlugen, sprach die Mutter: »Jetzt stoße mich in das Feuer!« Er tat es, und die Jaguarin verbrannte.

Ihr Sohn kroch mit seinem Weib unter einen großen Mörser, stülpte ihn um, und sie setzten sich nieder. Da versammelten sich alle ihre Verwandten und trauerten um die[253] Mutter. Sie kamen und weinten auf dem ganzen Weg. Zuerst kam das Kaninchen. Es erblickte ihn mit seinem Weibe und sprach: »Sie werden dich nicht töten; ich setze mich hierher.« Sie setzten sich beide unter den Mörser, und das Kaninchen setzte sich darauf.

Nun kamen alle herbei: »Wer hat unsere Mutter verbrannt? Hat er sich denn davongemacht?« So sprachen sie und weinten und legten sich nieder. Es kam der Fuchs; es kam der Jaguar mit dem gelben Kragen; es kam der Marder; es kam die Maracajakatze; es kam der gefleckte Jaguar; es kam der Puma. Alle kamen sie und klagten, und dann gingen sie wieder weg.

Da kam er mit seinem Weib hervor, und nun lebten sie ungestört.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 251-254.
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