Die Geschichte von dem einfältigen Lull.

[320] Es war einmal ein Dummkopf, namens Lull, der gerade am Tage seiner Geburt seinen Vater verloren hatte. Nun ist es ein alter Spruch, dass ein Knabe, der keinen Vater hat, ein König ist, denn er kann thun, was er will. Für Lull war das doppelt wahr, denn er hatte so wenig Verstand, dass es ganz vergebens war, auch nur einen Versuch zu machen, ihn zu überwachen.[320]

In derselben Stadt lebte Lulls Tante, eine Schwester seiner Mutter, die Witwe war und eine einzige Tochter hatte. Seine Mutter besuchte ihre Schwester von Zeit zu Zeit und sagte bei solchen Gelegenheiten: »Schwester, du hast eine Tochter; wollen wir nicht aus unseren Kindern ein Paar machen?« Darauf pflegte die Schwester zu antworten: »Wie kann ich mein Kind an einen Dummkopf verheiraten? ich bin neugierig, was da herauskommen würde. Nein, Schwester, das geht nicht an.« Darauf erwiderte dann die arme Mutter: »Du bist meine leibliche Schwester. Wenn du meinem einfältigen Sohne deine Tochter nicht geben willst, wer in der Welt wird es sonst thun wollen?« Dann liess sich die Tante erweichen und sagte: »Gut, du bist meine ältere Schwester, ich muss dir wohl folgen. Komm nächstens wieder. Wir wollen einmal sehen, ob es sich machen lässt.«

Endlich hatte man sich geeinigt, und Lulls Mutter sandte, dem Gebrauch entsprechend, der Braut ihres Sohnes Kleider und Putz zum Geschenk. Auch der gute Lull begann das Haus seiner Braut zu besuchen, und als die Leute erfuhren, dass er verlobt sei, waren sie ganz höflich gegen ihn, indem sie zueinander sprachen: »Ihr wisst doch, dass er der Witwe Jeera Schwiegersohn ist?«

Nun gilt es aber nicht für passend für einen jungen Mann, wenn er das Haus seiner Braut zu oft besucht, und solche Besuche werden nicht gern gesehen; aber Lull, der etwas einfältig war und bei seinem ersten Besuch gut bewirtet wurde, kümmerte sich nicht um die Vorurteile der Leute und pflegte bald seine Tante Tag für Tag zu besuchen. Eines Tages war er wie gewöhnlich auf dem Wege zu ihrem Hause, als ihn ein Mädchen, das Wasser vom Brunnen holte, erblickte und ihm zurief: »Lull, komm her und hilf mir dies Wassergefäss tragen!« Sie war bei weitem nicht so stark wie er, der kräftig und behend war. Als er nun herankam, begann sie sich über ihn lustig zu machen und ihn mit seiner Braut zu necken. Lull gab ihr[321] einen Stoss, so dass sie das Gleichgewicht verlor und in den Brunnen fiel, und da Niemand in der Nähe war, um sie zu retten, so musste das arme Ding ertrinken.

Als der Bursche nach Haus kam, frug ihn seine Mutter: »Lull, wo bist du heute wieder gewesen?«

»Ich bin wieder dort gewesen,« antwortete Lull, »und habe viel zu essen bekommen.«

»Lull,« sprach die Mutter, »du darfst nicht so oft hingehen, da du jetzt verlobt bist; die Mädchen werden sich über dich lustig machen, und wer weiss, was dann geschehen wird.«

»Worüber sollen sich die Mädchen lustig machen?« erwiderte Lull. »Eine hat es heute schon versucht, aber ich habe sie beim Hals ergriffen und in den Brunnen geworfen. Sie ist so tot wie ein Stein, sage ich dir!« Und Lull lachte aus vollem Halse über den Streich, den er ihr gespielt hatte.

»Ach, was ist das für eine entsetzliche Nachricht,« rief die unglückliche Mutter. »Nun wird mein Sohn gehangen werden.«

Ohne sich einen Augenblick zu besinnen, lief sie hinaus, und da es dunkel war, wurde sie von niemandem bemerkt Sie kam zum Brunnen und zog den Leichnam unter den grössten Schwierigkeiten heraus, trug ihn zum Fluss, band ihm einen grossen mit Sand gefüllten Krug an den Hals und warf ihn ins Wasser.

Auf dem Wege sah sie den Leichnam eines Ziegenbocks auf dem Boden liegen. Sie lud ihn auf die Schultern, trug ihn zum Brunnen und warf ihn hinein. Dann kehrte sie nach Hause zurück.

Darauf überlegte sie, dass ihr einfältiger Sohn sicherlich jedem den Streich erzählen würde, den er dem unglücklichen Mädchen gespielt hatte, und dass sie daher auch in dieser Beziehung Vorsichtsmassregeln zu ergreifen haben würde. Sie nahm daher eine Schachtel mit Zuckerwerk und streute es überall im Hofe umher. Dann rief sie ihren Sohn heraus,[322] der schon zu Bett gegangen war, und schrie: »Steh auf, Lull, steh auf, Junge, es hat Zuckerwerk geregnet!« Eine weitere Aufforderung war für Lull nicht nötig, da er Zuckerwerk für sein Leben gern ass. Er sprang aus dem Bette, lief hinaus, wie er war, las alles auf und stopfte es in sein geräumiges Maul.

Inzwischen war im Hause des ertrunkenen Mädchens grosse Unruhe entstanden, überallhin wurden Boten ausgesandt, um sie zu suchen, aber alle kehrten ebenso klug zurück, wie sie ausgegangen waren. Das Suchen währte die ganze Nacht, und am Morgen meinten einige: »Das arme Mädchen ist wegen ihres Schmuckes und ihres Ohrgehänges ermordet worden, und die Mörder haben ihren Leichnam verborgen.«

Lull, der früh aufgestanden war, wollte wie gewöhnlich nach dem Hause seiner Base gehen. Als er die Strasse entlang schritt, bemerkte er eine ungewöhnliche Bewegung, stand still und frag: »Was hat dieser Lärm zu bedeuten?«

»O Lull,« sagte einer, »Gaffer Laityas Töchterchen ging aus Wasser zu holen und ist nicht aufzufinden.«

»Ist das der ganze Lärm?« antwortete Lull. »Ich habe sie beim Hals ergriffen und in den Brunnen geworfen. Habt Ihr dort nicht nachgesehen?«

Einige von den Umstehenden, die diese Worte hörten, ergriffen ihn und führten ihn fort. »Komm mit, Lull, und zeige es uns,« sagten sie.

Unterwegs frag einer: »Wann hast du sie umgebracht, Lull? Wann hast du sie umgebracht?«

»Nun, Ihr dummes Volk,« sprach Lull, »natürlich gestern Abend, ehe es Zuckerwerk regnete.«

»Der Bursche ist ja verrückt,« hiess es da. »Was sollen wir die Zeit mit ihm verschwenden?« Aber andere meinten: »Nein, lasst uns gehen und nachsehen, vielleicht ist doch etwas daran.«

Als die Menge bei dem Brunnen ankam, sprach der[323] Vater des Mädchens: »Lull soll hinabsteigen und meine Tochter herausholen.«

»Gut,« rief Lull, »bringt mir ein Seil, bindet es mir um den Gürtel und lasst mich hinab, ich will sie schon finden.«

Die Leute brachten ein starkes Seil herbei, und Lull wurde in den Brunnen hinabgelassen, der sehr geräumig, aber nicht sehr tief war, wie alle Brunnen hier zu Lande.

Als Lull, der wie ein Fisch schwimmen konnte, im Wasser war, hielt er Umschau, konnte aber keine Spur von einem Leichnam entdecken. Darauf tauchte er unter und stiess auf etwas auf dem Grunde des Brunnens, untersuchte es und kam wieder an die Oberfläche.

»He!« schrie er, indem er zum Brunnenrande empor sah und sich an den unglücklichen Vater wandte: »Hat deine Tochter zwei Hörner?«

»Bring den Leichnam herauf, bring ihn herauf, Lull,« rief der arme Mann, »damit wir ihn ansehen.« Wieder tauchte Lull ins Wasser, und nach einer Weile, die den Wartenden wie eine Ewigkeit erschien, kam er wieder an die Oberfläche. »Sag einmal,« rief er dem Vater zu, »hat deine Tochter vier Beine?«

Als man dies hörte, sprachen einige: »Was wollen wir uns hier mit diesem einfältigen Narren plagen?« Andere aber riefen dem Lull zu: »Bring den Leichnam herauf, Lull! Du bist ein braver Bursche! Bring ihn herauf und zeige ihn uns.«

Lull tauchte zum drittenmal unter und blieb länger als vorher. Zuletzt erschien er wieder, schaute zu den gespannten Gesichtern der Harrenden empor und frug: »Oheim, hat deine Tochter einen langen Schwanz?«

Da wurden viele zornig. »Warum bringst du den Leichnam nicht herauf, du Dummkopf?« schrien sie und drohten ihn mit Steinen tot zu werfen.

Schleunigst verschwand der Bursche zum viertenmal; wäre er wie andere Leute gewesen, so hätte er des Vaters[324] Thränen gefühlt, die in den Brunnen fielen, schlimmer als Steine, Diesmal blieb er so lange unter Wasser, dass die Leute glaubten, er wäre ertrunken. Zuletzt aber erschien er wieder und hielt den Kopf eines alten Ziegenbockes hoch übers Wasser, indem er dem unglücklichen Vater zurief: »Sag, ist das deine Tochter?«

Nun entstand die grösste Unruhe und Verwirrung unter den Leuten. Einige platzten fast vor Wut, andere vor Lachen, und keiner wusste, was er sagen oder wohin er blicken sollte. »Ach, was ist das für ein Unsinn,« sagte einer der ernsthaften Leute, »wieviel kostbare Zeit haben wir durch den elenden Narren verloren!« Einige waren dafür, das Seil in den Brunnen zu werfen und den Burschen ertrinken zu lassen. Aber der Vater sprach: »Nein, es ist nur ein armer Narr, lasst ihn gehen!« Und so wurde Lull heraufgezogen und davongejagt.

Während dieser Vorgänge hatte Lulls arme Mutter, halb von Sinnen vor Angst und Besorgnis, Brot als Almosen verteilt und bei allen Göttern für ihren Sohn Fürbitte eingelegt. Sie war überglücklich, als sie ihn heil und gesund wieder hatte; denn, wenn er auch ein Narr war, so war er doch das Licht ihres Lebens. Aber sie schonte ihn nicht, als sie ihn wieder hatte und machte ihm viele Vorwürfe: »Du kleiner Narr! Du hast deine Braut verloren! Wer wird dich nun heiraten?« Denn ihre Schwester war sofort zu ihr gekommen und hatte gesagt: »Das ist ein schöner Lärm in der Stadt und alles um deinen Dummkopf von Söhnt Nun ist es aus mit der Brautschaft, liebe Schwester. Ich habe genug davon und kurz gesagt, meine Tochter ist jetzt mit jemand anderem verlobt.«

So war aus der Hochzeit nichts geworden und mit der Brautschaft des armen Lull war es aus.189

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1898, S. 320-325.
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