Vorwort.

Der vorliegende vierte Band der »Beiträge für Volks- und Völkerkunde« enthält diejenigen Stücke aus Bd. II Abt. 1 meiner Publikation: »Die neu-aramäischen Handschriften der Königl. Bibliothek zu Berlin«1, die weitere Kreise, speziell die Freunde der Volkskunde und die Literarhistoriker interessieren dürften.

Das Neu-aramäische, oder vielmehr die neu-aramäischen Dialekte, sind Überbleibsel jener aramäischen oder syrischen Sprache, die einige Jahrhunderte vor und einige nach Chr. Geb. vom Mittelländischen Meer bis zum Tigris gesprochen wurde. Mit dem siegreichen Vordringen des Islams wurde sie immer mehr vom Arabischen verdrängt und hat sich nur bei den Christen in den Gebieten südlich von Armenien, etwa von Urmia bis Diarbekr, und dann in Malûla, einem Dorfe am Ostabhange des Antilibanus, erhalten.

In den Jahren 1884 und 1888 hat die Kgl. Bibliothek zu Berlin von Herrn Prof. Sachau neben vielen syrischen Handschriften eine Reihe neu-aramäischer erworben, die derselbe auf seiner Reise in Syrien und Mesopotamien von Einheimischen hat niederschreiben lassen, und deren wichtigste Texte in der erwähnten Publikation von mir herausgegeben und bearbeitet wurden.[9]

Von den Stücken, die in diesem Bande Aufnahme fanden, ist die »Geschichte des weisen Chikâr« (S. 1–41) vom Lehrer und Diakon Jesaias in Qyllith im Ṭur-Abdîn aus dem Arabischen ins Neu-aramäische seiner Heimat, das sogenannte Ṭorâni, übersetzt worden. Über den Inhalt der interessanten Erzählung und speziell diese Rezension handelte ich in der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft Bd. XLVIII S. 671 ff. und in der Vorbemerkung S. 3 f.

Die Abteilung B (S. 43–135) ist jedenfalls in dem jetzt Sach. 337 genannten Codex in neu-aramäischer Sprache mit arabischer Übersetzung von dem in der Vorbemerkung genannten Diakon Jesus in Alqôsch niedergeschrieben worden. Von ihm dürfte auch die arabische Übersetzung herrühren, aber der ursprüngliche Verfasser ist er wahrscheinlich nicht, da sich in jener viele Missverständnisse finden. Die Erzählungen rühren überhaupt nicht von einem Autor her, da sie in verschiedenen Dialekten geschrieben sind, und zwar ist die Sprache der meisten der Dialekt von Ṭiâri, von dem ich in der Zeitschrift für Assyriologie und verwandte Gebiete Bd. IX p. 224 ff. eine Skizze zu geben versuchte.

Das Nötige über C (S. 137–171) ist in der Vorbemerkung p. 139 gesagt; ebenso weiss ich über D (S. 173–263) nicht viel mehr zu bemerken, als was in der Schlussnotiz p. 263 steht. Der Codex 146 (A) ist von Manṣûr Sôrô aus Alqôsch geschrieben. Später schrieb er ihn noch einmal ab und fügte eine arabische Übersetzung hinzu; das ist der Cod. 148 (B). Ebenso verfertigte Jeremias Schamir eine arabische Übersetzung zu den Geschichten; sie wird jetzt Cod. 147 genannt und wird von mir in den Noten mit C bezeichnet.

Die Erzählung E (S. 265–279) ist von Diakon Fransi Mîrî aus Tellkêf in der jetzt Cod. 336 benannten Handschrift niedergeschrieben, und Jeremias lieferte zu ihr eine arabische Übersetzung in Cod. 200. Auch diese Geschichte ist nicht frei erzählt, sondern aus dem Arabischen übersetzt, und dürfte in dieser Sprache schon lange existieren, da sie arabisch auch in[10] einer wahrscheinlich, aus dem 18. Jahrhundert stammenden Handschrift der Göttinger Bibliothek2 vorhanden ist.3

Die Teile A, C und E enthalten also Buchgeschichten, während wir in den Sammlungen B und D, abgesehen von der Geschichte BII, Volksmärchen vor uns haben, die wahrscheinlich weder die Verfasser selbst, noch ihre nächsten oder nach nächsten Quellen aus Schriften entnommen haben. Dass nun gerade diese Erzählungen eine grosse Verwandtschaft mit den europäischen Märchen haben, darüber wird sich der Sagenforscher gewiss nicht wundern. Man ist schon so sehr daran gewöhnt, selbst in den entlegensten Orten auf lauter bekannte Märchen zu stossen, dass man sich im Gegenteil wundern würde, wenn die vorliegende Sammlung weniger Bekanntes enthielte. Und so sehr abgelegen ist ja ihr Heimatsort nicht. Alqôsch liegt in der Nähe von Mossul, einem Orte, der schon seit lange viele Beziehungen zum übrigen Orient und auch zu Europa hat. Ausserdem gehört das Dorf zur Türkei, und daher kommt es auch, dass sich gerade in den Märchen der Balkanvölker viele Parallelen zu den unsrigen finden.

Die Lieder (S. 281–312), über deren Wert und Inhalt ich mich in den Bemerkungen auf pp. 283 und 300 äussere, sind wie E zuerst von Fransi Mîrî in Cod. 336 niedergeschrieben worden; nachher schrieb sie Jeremias Schamir noch einmal in den Codd. 200 und 343 ab, aber mit vielen Abänderungen, und fügte arabische Übersetzungen und auch kleine Glossen hinzu. Der Edition ist der Text in Cod. 336 als Original zu Grunde gelegt.[11]

Bei der Übersetzung ins Deutsche suchte ich möglichst wörtlich zu sein. Das musste ich schon deshalb thun, weil sie zunächst ein Schlüssel zum Verständnis der Texte sein sollte. Dann muss man m.E. gerade bei volkstümlichen Stücken nach Kräften den Tenor der Originale beizubehalten suchen. Daher lesen sich auch die verschiedenen Teile, je nach der Beschaffenheit der zugehörigen Texte, verschieden. Der oder die Verfasser von B haben hier vielleicht zum ersten Male etwas niedergeschrieben, und man merkt auch, wie ihr Stil allmählich an Gewandtheit und Geschicklichkeit zunimmt. Dagegen ist die Darstellung des Manṣûr von vornherein schön und gewandt, wie denn überhaupt seine Geschichten, besonders die letzten, die besten Stücke in der ganzen Sammlung sind. Hoffentlich stösst sich der Leser nicht daran, dass in ihnen, wie in den übrigen, hin und wieder etwas derbe Ausdrücke vorkommen. Sie sind nicht schlimmer als die, denen man selbst bei modernen europäischen Klassikern begegnet, von den älteren ganz abgesehen. Ich glaube sogar, dass, wer die orientalische Volksliteratur kennt, von dem dezenten Ton, der sonst in der vorliegenden Sammlung herrscht, angenehm überrascht sein wird.

In den Noten suchte ich zunächst sagen vergleichende Hinweise zu geben, doch enthalten sie auch Literar- und Kulturhistorisches, soweit es mir für den Leser wissenswert zu sein schien. Dass sich auch manche Note rein linguistischen Inhaltes findet, die nur für den Semitisten bestimmt ist, wird mir der Leser beim Charakter der vorliegenden Arbeit gewiss nicht verargen.

Zum Schluss sei es mir gestattet, der Verwaltung der Kgl. Bibliothek zu Berlin, besonders Herrn Oberbibliothekar Prof. Dr. STERN, für die Liberalität, mit der sie mir gedrucktes wie handschriftliches Material zur Verfügung stellte, auch an dieser Stelle meinen verbindlichsten Dank auszusprechen.


Berlin, September 1895.

Mark Lidzbarski.

1

Semitistische Studien, her. von Carl Bezold IV–IX.

2

Cod. MS. arab. 70.

3

Auf diese Handschrift wurde ich durch eine freundliche Mitteilung des Herrn Oberbibliothekar Prof. Dr. Pietschmann in Göttingen aufmerksam gemacht. Leider geschah dies erst vor einigen Tagen, und konnte ich bis jetzt nur aus den im Verzeichnis der Handschriften im Preussischen Staate I. Hannover 3. Göttingen 3 (Berlin 1894) p. 340 mitgeteilten Anfangsworten des Codex feststellen, dass er dieselbe Geschichte enthält wie der Text des Fransi Mîrî.

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. IX9-XII12.
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