VI
Der Holzhauer und die Schlange.

[74] Ist identisch mit PRSOC, KurdS. St. II (Abs. 1) und No. 60 der von HOCHFELD in Beiträge zur syrischen Fabelliteratur (Halle 1893) herausgegebenen Fabelsammlung. Auf die Verwandtschaft der syrischen Fabel mit der ÄSOP'schen »der Bauer und die Schlange« (96 und 96 b in der HALM'schen Textausgabe) wies HOCHFELD bereits hin (p. 50 l. ult.). Sie findet sich ferner im Pantsch. (II p. 244 f.) und wird von BENFEY (I p. 359 ff.) ausführlich behandelt; füge hinzu: KRAUSS, SMSdsl. I p. 65 f.


Es war einmal ein Mann, der war sehr arm. Er hatte einen Sohn und eine Frau. Was verdiente aber dieser Mann, und was kaufte er dafür? – Jeden Tag nahm er Seil, Axt und Keile (?), ging hin und brachte ein Bund Holz und gab es für drei Brode von Prâge1 weg: ein Brod für sich, eins für seine Frau und eins für seinen Sohn. Dieser Mann besass eine Flöte. Eines Tages ging er wieder nach Holz und kam an eine Sträucherbank (?); da setzte er sich hin und begann auf seiner Flöte zu spielen. Sogleich sah er eine grosse Schlange herauskommen, die zu tanzen anfing. Der Mann spielte nun, und die Schlange tanzte, bis der Mann müde war vom Spielen und die Schlange vom Tanzen. Hernach schlüpfte die Schlange in ihr Loch, brachte ein Goldstück heraus und legte es vor dem Manne nieder. Dieser freute sich sehr und verschaffte sich durch das Goldstück einen guten Tag. Er nahm es nämlich, begab sich nach Hause, gab es für ein wenig Getreide ..... aus und kaufte sich auch ein wenig Bettzeug.

Am folgenden Tage ging er wieder zur Schlange und spielte ihr vor. Und die Schlange tanzte wieder, bis sie alle[75] beide müde waren. Dann brachte die Schlange wiederum ein Goldstück und legte es vor den Mann. Das ward nun die Gewohnheit des Mannes: jeden Tag pflegte er zu kommen und der Schlange vorzuspielen, die Schlange tanzte dann, er bekam ein Goldstück und ging nach Hause. Und das war sein Geschäft von jenem Tage an und für der, so dass er schliesslich ein grosser Kaufherr wurde und sich Häuser und viele, viele Lasttiere und Schafe kaufte.

Eines Tages musste er notwendig nach einer Stadt reisen, und da sprach er zu seinem Sohne: »Mein Sohn! morgen fahre ich nach der und der Stadt, gehe du an den und den Ort, nimm mit dir die Flöte und spiele auf ihr. Sogleich wirst du sehen, wie eine Schlange herauskommt und zu tanzen anfängt. Sprich aber nicht mit ihr, und wenn sie dir ein Goldstück giebt, nimm es und gehe schnell, schnell nach Hause. Diesen Rat gebe ich dir, er ist sehr gut.« »Gut, Vater«, sprach der Sohn. Dann begab sich der Mann auf den Weg, und der Sohn nahm die Flöte und begab sich an den Ort, den der Vater ihm angegeben hatte. Daselbst spielte er, bis er und auch die Schlange müde waren. Die Schlange schlüpfte dann ins Loch, holte ein Goldstück heraus und legte es vor den Jüngling. Der nahm es und ging nach Hause. An dem einen Tage und auch noch am zweiten that er so, wie sein Vater ihm gesagt. Aber eines Tages kam er auf böse Gedanken, dachte sich im Herzen und sprach: »Was ist das für eine Sache, und wie nennt man ihren Namen? Jeden Tag soll man hierher kommen und spielen! Ich werde jetzt lieber die Schlange töten und nachsehen, ob hier nicht ein Schatz liegt. Den will ich herausnehmen und nach Hause tragen und brauche dann nicht mehr hierher zu kommen.« Dieses schlechte Vorhaben ersann er, nahm dann die Flöte und begann zu spielen. Und als die Schlange herauskam und zu tanzen begann, da nahm er einen Stein und liess ihn gegen die Schlange sausen. Er hieb ihr vier Finger (!) über dem Schwänze ab, und trennte ihr so den[76] Schwanz ab. Da geriet die Schlange in grosse Wut, schoss auf den Knaben los (?) und biss ihn in die Ferse. Sofort schwoll der Knabe an und starb auf der Stelle.

Der Vater des Knaben kehrte inzwischen von seiner Reise zurück und kam nach einigen Tagen von der [fremden] Stadt nach Hause. Als er aber den Knaben nicht sah, fragte er die Mutter, wo der Sohn wäre. »Ich weiss nicht«, antwortete sie. »Gestern ging er zur Schlange, kam aber nicht zurück.« Sogleich ahnte der Vater, wie die Sache sich verhielt, und sein Herz geriet in Unruhe (?). Schnell, schnell ging er zur Schlange, und da sah er seinen Sohn tot und bereits verwest daliegen. Er ergriff nun selbst die Flöte und spielte. Und wieder kam die Schlange heraus, begann zu tanzen und tanzte, bis sie müde war. Dann ging sie in ihr Loch zurück, brachte ein Goldstück heraus und legte es vor ihm hin. Dann sprach sie zu ihm: »Nimm das Goldstück und gehe. Komme jedoch nicht wieder hierher, denn ich bin auf dich böse und dir nicht mehr zugethan, und auch du kannst mir ja nicht mehr zugethan sein. So oft ich sehe, dass mein Schwanz abgehauen ist, werde ich böse, und so oft du deinen Sohn tot siehst, wirst du böse. So geh denn in Frieden und komme nicht mehr her.«

1

Der Uebersetzer giebt auch nichts anderes; ist vielleicht prâge, »graminis species« PNSM., Thes. col. 3237.

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 74-77.
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