VII
Der Traumdeuter und die Schlange.

[77] Ist dieselbe Geschichte, wie EARABSCHAH p. 171 l. 17 ff. und Cod. Sach. 145 St. 29 (s. unten); nur in Einzelheiten weicht sie von dieser ab.


Es war einmal ein Mann, der war sehr arm, konnte aber etwas lesen. Er hatte ein Buch, darinnen er zu lesen pflegte. Eines Tages sah der König der Stadt einen Traum. In diesem Traume sah er, dass es Füchse regnete. Er rief alle Zauberer der Stadt zusammen, damit sie ihm seinen Traum deuteten. Aber keiner konnte ihn deuten. Schliesslich kam ein Mann und sagte: der und der Mann deutet Träume. Sogleich schickte der König nach dem Manne einen Polizisten, der sprach: »Auf! der König will dich haben.« Da geriet der Mann in grosse Furcht und sagte zum Polizisten: »Was wünscht der König von mir? Ich bin ein armer Mann und habe nichts verbrochen.« Doch erhob er sich und ging zum König.

Als er dahin ging, kam er, in der Mitte des Weges, an eine Ruine, und daselbst erblickte er eine Schlange. Diese rief nach dem Manne und sprach: »Mensch, wohin wanderst du, und wie geht es dir?« »Der König hat mich gerufen«, antwortete der Mann. – »Aber was will er von dir? Er hat einen Traum gesehen und wünscht von dir seine Deutung. Ich weiss, was er gesehen hat, und was die Deutung ist.« Da sprach jener Mann: »Ich bitte dich inständig, dass du mir sagst, was er gesehen hat, und was die Deutung ist. Es sei abgemacht: alles, was er mir giebt, bringe ich mir und dir.« »Geh aber nicht von dieser Verabredung ab«, sagte die Schlange. »Ich werde nicht abgehen«, antwortete der Mann, »wenn du mir nur das Richtige mitteilst.« Da sprach die Schlange: »Geh, der König hat in seinem Traume gesehen, dass es in der Welt Füchse[78] regnete. Und die Deutung des Traumes ist: diese Zeit ist eine Zeit von Täuschung und List und jeglicher Falschheit.« Die Schlange kehrte dann in ihr Loch zurück, und der Mann ging zum Könige.

Als er vor den König hintrat, sprach dieser: »Komm her, sage, was ich gesehen habe, und was dessen Deutung ist?« Da antwortete der Mann: »Du hast in deinem Traume gesehen, dass es in der Welt Füchse regnete. Und seine Deutung ist: diese Zeit ist eine Zeit voll List und Lüge, wie denn der Fuchs verschlagen und voll Ränke ist.« »Du hast gut gesprochen«, sagte der König, »diese Deutung ist gut.« Dann gab er dem Manne viel Bachschisch, und der machte sich auf den Heimweg. Er benahm sich aber listig gegen die Schlange. Er ging nämlich nicht den ersten Weg, der vor der Schlange vorbeiführte, sondern er lenkte seinen Weg nach einer andern Seite ab und dachte sich: »Was soll die Schlange mit dem Gelde thun.« Verstohlen, verstohlen ging er nach Hause und gab1 der Schlange nichts.

Es verstrich einige Zeit, da sah der König wieder einen (andern) Traum. Er sah in seinem Traume, dass es Hirtenstäbe2 regnete. Schnell, schnell schickte er einen Polizisten nach jenem Manne. Der Polizist ging und sprach: »Auf! der König ruft dich jetzt.« Da wurde er in seiner Seele bestürzt: »Weh über den König, weh über die Schlange!« Er machte sich jedoch auf und ging mit dem Polizisten und dachte, dass man ihn nun töten würde. Wieder kam er an jene Ruine, in der die Schlange wohnte, sah die Schlange, und diese redete ihn an: »Heda, Mensch, wohin gehst du? Warum kamst du das letzte Mal nicht zu mir, um mir das Geld zu bringen. In deinem Herzen ersannest du eine List gegen mich, um zu entwischen. Jetzt geh hin,[79] damit der Pascha3 dir den Kopf abhauen lässt.« Da begann der Mann vor der Schlange zu weinen und sprach: »Bei deinem Glück, Schlange! Nur noch dieses Mal teile es mir mit. So sei es vor Gott, wenn ich dir nicht das Geld vom ersten Male und auch vom letzten Male bringe, so viel er mir giebt.« »Sei aber nicht falsch gegen mich, Mensch, wie das andere Mal«, erwiderte die Schlange. »Nein«, antwortete er, »das Versprechen wird gehalten, dass ich alles, was er mir giebt, dir bringe.« Da erwiderte die Schlange: »Geh hin; der König hat im Traume gesehen, dass es in der Welt Hirtenstäbe regnete.« Er ging dann froh zum Könige und trat ein. »Bist du gekommen, junger Mann?« fragte der König. Da verbeugte er sich vor dem Könige und sprach: »Ich bin gekommen, mein Freund4 und Herr.« Da fragte der König: »Was habe ich gesehen, und was ist dessen Deutung?« »Du hast im Traume gesehen«, antwortete er ihm, »dass der Himmel Hirtenstäbe regnete. Und das bedeutet: Es ist jetzt eine Zeit des Mordens und Blutvergiessens und der Gewalt.5 Wie der Hirtenstab ein Gegenstand der Stärke ist, so wird das auch eine Zeit von Stärke sein.«

Wiederum gab ihm der König viele Geschenke, und er machte sich auf den Heimweg. Als er an die Ruine kam und die Schlange erblickte, dachte er und sagte zu sich: »Jetzt will ich die Schlange töten, damit sie nichts von mir nimmt.« Da bückte er sich, ergriff einen Stein und warf ihn nach der Schlange. Wenig fehlte, dass er die Wurzel ihres Ohres traf. Aber die Schlange wandte ihren Kopf nach der Seite, worauf der Mann vor ihr vorbei nach Hause ging.6[80]

Und wieder verstrich einige Zeit, ungefähr ein Jahr, mehr oder weniger, und wiederum sah der König einen (andern) Traum, nämlich, dass es in der Welt Schwerter regnete. Wiederum schickte er einen Polizisten nach dem Manne, und der sprach: »Auf, der König wünscht dich zu sprechen, rasch, rasch!« Da geriet er in grosse Furcht, dass man ihm den Kopf abhauen würde. Er nahm Abschied von seinen Söhnen und seiner Frau und begann zu weinen. Dann ging er mit dem Polizeidiener weg und kam wieder an jene erste Ruine. Und wiederum trat er heran und erblickte die Schlange an dem gewöhnlichen Orte. »Was ist dir jetzt wieder, Mörder?« rief die Schlange. »Geh zum König und stirb.« Da sagte der Mann zur Schlange: »Bei deiner Seele! meine Freundin und Geliebte. Ich habe dir meinen Turban vor die Füsse geworfen. Sei so gut und thue es noch diesmal. So wird es sein; ich werde von dem Versprechen nicht abweichen, geliebte Schlange, sondern alles Geld, das erste wie das letzte, werde ich dir bringen, wenn du mir nur das Richtige mitteilst, damit der König mich nicht tötet, und ich sterben muss.« Da sagte die Schlange: »Geh, Treuloser (?)! Gott zu Liebe will ich es dir auch diesmal sagen. Geh und sag dem König: Du hast in deinem Traume gesehen, dass es in der Welt Schwerter regnete. Die Deutung desselben ist: Jetzt ist eine Zeit des Rechtes angebrochen. Denn das Schwert hat die Macht gewonnen, und nun darf keiner mehr seinen Arm[81] gegen seinen Nächsten erheben. So wird denn eine Zeit der Liebe, des Friedens und des Vertrauens kommen.«7

Sofort begab sich der Mann zum Könige. Und der König sprach zu ihm: »Bist du gekommen, junger Mann?« »Ich bin gekommen, mein Freund«, antwortete er. – »Dann teile mir mit, was ich gesehen habe.« – »Du hast in deinem Traume gesehen«, antwortete jener, »dass der Himmel Schwerter regnete, und das bedeutet: das Schwert hat die Macht gewonnen, und die Welt wurde ruhig, die Regierung wird einflussreich sein, und Räuber wird es nicht mehr geben.« »Du hast gut gesprochen«, sagte der König und gab ihm viele Geschenke. Und sogleich brachte der Mann die erste, zweite und letzte Summe der Schlange und sagte: »Das ganze .... gehört dir.« Da sagte aber die Schlange: »Was soll ich damit anfangen. Behalte es für dich und geh. Als du dich von mir wegstahlst, da war die Zeit der List, und als du den Stein nach mir warfest, da war die Zeit des Mordens, jetzt aber ist die Zeit der Aufrichtigkeit, und daher hast du mir selbst das Geld gebracht. Denn der Charakter einer Zeit kommt von Seiten Gottes.«

1

So in der Übersetzung; im Texte: »sah«.

2

Nach JABA, Dict. p. 345 a und PNSM., Thes. col. 3693 unt. Der Übersetzer hat »Schlösser« (,aqfâl), was meines Erachtens nicht richtig ist.

3

Vgl. oben p. 65 Anm. 2.

4

Das Wort kesi »Geliebter« (cfr. PRSOC, KurdS. a, p. 328 s.v.) wird in unserem Texte merkwürdigerweise besonders in Ansprachen an höhere Personen gebraucht.

5

S. unt. p. 82 Anm. 1.

6

Bei EARABSCHAH ist die Reihenfolge der ersten beiden Träume umgekehrt. Der erste Traum des Königs ist, dass es Löwen, Leoparde, Panther und Tiger regnete. Die Deutung lautet, dass viele Feinde den König in dem Jahre bekämpfen werden, »doch werde er das Feuer ihrer List durch das Wasser seines Schwertes auslöschen.« Der Traumdeuter geht diesmal an das Loch der Schlange heran, ruft sie, und wie sie herauskommt, wirft er ein Holzscheit, gegen sie und verwundet sie. Zum zweiten Male träumte es dem König, dass es Affen und Mäuse, Füchse und Ratten regnete. Die Deutung lautet, es werde ein Jahr räuberischer Überfälle und listiger Anschläge kommen. Diesmal meidet der Traumdeuter die Schlange.

7

Der Erzähler scheint den zweiten und dritten Traum durcheinander geworfen zu haben. Der zweite dürfte gelautet haben, dass es Schwerter regnete, daher die Deutung, dass eine kriegerische Zeit anbrechen werde, und der dritte, dass es Hirtenstäbe regnete, und diese deuteten auf eine Zeit friedlicher Entwicklung hin. – Bei EARABSCHAH träumt der König zum dritten Male, dass es Hammel und Schafe regnete; die Deutung ist, dass eine Zeit des Segens und des Friedens kommen werde.

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 77-82.
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