VI
20. Der Einjahrskönig.

[148] EARABSCHAH p. 25 l. 18 ff. Die bekannte Parabel aus Barlaam und Joasaph, über deren Verbreitung man Gest. Rom. p. 745 a und KUHN, Barlaam und Joasaph p. 79 f. vergleiche.


Ein Kaufmann hatte einen vorzüglichen, arbeitsamen Diener. Eines Tages sagte sein Herr zu ihm: »Du hast Lohn bei mir ausstehen, und ausserdem möchte ich dir deine Trefflichkeit gut belohnen. Alles, was du diesmal, auf dieser Reise verdienst, soll dir gehören.« Da nahm er das Geld in Empfang, rüstete ein Schiff aus und überliess es dem Winde und den Wellen. Als er einige Tage gereist war, wurde das Meer unruhig, und Wind und Wellen erhoben sich, bis das Schiff zerbrach und seine Bemannung unterging. Nur jener Mann bekam in die Hand ein Brett, und auf ihm erreichte er eine Insel. Er schweifte auf dieser umher, erblickte dann einen Ort und ging auf ihn zu. Da fand er kultiviertes Land mit einer Stadt, und als er sich nach derselben begab, begegnete er einer Schaar Männer und Weiber mit Pfeifen und Pauken und Reiter, die Musik machten, bis sie zu ihm kamen. Sofort zogen sie ihm Königsgewänder an, setzten ihm eine Krone aufs Haupt, liessen ihn ein Pferd besteigen und riefen vor ihm: »Sultan! Sultan!« bis zur Stadt. Hier traten sie in eine gewaltige Burg, breiteten vor ihm Seiden- und sonstige Stoffe1 aus, liessen ihn auf einem Throne Platz nehmen und sagten zu ihm: »Du bist unser Sultan.« Er dachte über die Sache nach, wie sie zuging und wodurch sie veranlasst wurde. Dann wählte er sich einen Jüngling aus, ernannte ihn zu seinem Vesier und behandelte ihn sehr gut, bis er glaubte, auf ihn vertrauen[149] zu dürfen. Dann wandte er sich an ihn allein mit der Frage und sprach: »Wie[so] machten sie mich zum Sultan, wo ich sie nicht kenne, und sie mich nicht kennen?« Da erwiderte ihm der Jüngling: »An diesem Orte herrscht folgende Sitte. Jedes Jahr ernennen die Bewohner einen Sultan, und wenn sein Jahr um ist, stürzen sie sich auf ihn, ziehen ihm seine kostbaren Gewänder aus und bekleiden ihn mit Gewändern der Niedrigkeit. Dann fesseln sie ihn, tragen ihn in eine Barke und übergeben ihn Leuten, die mit diesem Geschäfte betraut sind, auf dass sie ihn ans andere Ufer bringen. Hier giebt es keinen Menschen, nicht einmal den Namen eines Menschen, keine Nahrung und keinen Helfer, so dass er verhungert und verdurstet. Dann ernennen sie einen anderen an seiner Stelle.« Da sagte der König zum Jüngling: »Also wussten wohl meine Vorgänger nicht, dass dem so ist?« »Gewiss!«, erwiderte der Jüngling, »aber Vergnügen und Wohlfahrt führte sie zur Selbstvergessenheit, bis zu dem Zeitpunkte, wo sie abgeführt wurden.« Als der König dies hörte, grübelte er, in den Sinnen wie betäubt, nach, auf welche Weise er sich am Ende retten könnte. Dann sagte er zu seinem Vesier: »Mach dich auf, nimm Bauhandwerker, Tischler und Meister und begieb dich an den Ort, nach dem ich am Ende gehen muss. Daselbst baue mir ein Haus und schaffe alles hinein, was zu meinem Unterhalte nötig ist.« »Jawohl«, sagte der Vesier und ging hin und besorgte alles ganz so? wie er ihm befohlen hatte. Als dann sein Jahr um war, ergriff man ihn, zog ihn aus und schickte ihn dahin. Doch er ging froh hin, und als er da ankam, empfingen ihn seine Leute in seiner Wohnung, die er sich früher besorgt hatte.

Das Jahr ist das Auswachsen des Kindes.2 Das Schiff ist der Mutterleib. Dessen Bruch ist * das Herauskommen[150] des Kindes.3 Die Insel, auf die er geriet, ist die Welt. Die Menschen, die ihn zum Könige ernannten, sind seine Verwandten und Angehörigen. Der junge Vesier ist die Vernunft. Das Jahr seiner Herrschaft ist seine Lebensdauer auf dieser Welt. Das zweite Meer, auf das sie ihn bringen, ist sein Zustand zur Zeit seines Hinscheidens. Das Festland oder die Insel ist das Grab, Wer verständig und gläubig ist, der bereitet alles auf dieser Welt fürs Jenseits vor, wer aber dumm und unwissend ist, der kümmert sich um diese Dinge nicht und muss es am Ende bereuen, wo [die Möglichkeit, es gut zu machen] seinen Händen entwischt ist.


21. Die falschen Freunde. EARABSCHAH p. 42 l. 6 ff. Hieraus auch bei CARDONNE, Mélanges I p. 78 ff. Vgl. auch Gest. Rom. p. 733 s. n° 129.

22. (f. 16 a). Timurlenk's Zug nach dem Westen. EARABSCHAH p. 150 l. 20 ff.

23. Der Geizhals und die Maus. EARABSCHAH p. 164 l. 2 ff.

1

In der arabischen Übersetzung steht »Brocatstoffe«.

2

Bei EARABSCHAH (p. 29 l. 7 f.) heisst die Stelle: »Was den Sklaven zur Zeit seiner Abhängigkeit betrifft, so ist er das Kind in seinem ersten Dasein.«

3

Diese Worte gebe ich nach der Übersetzung; bei EARABSCHAH steht: »das Platzen der Blase«.

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 148-151.
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