XXI
55. Der untreue Depositär.

[168] Eine weitverbreiteie Anekdote; vgl. BASSET'S Ausführungen in Revtrad pop. VI p. 65 ff. und 302 ff.


Als eine Frau einmal [in Stambul]1 spazieren ging, sah sie vor der Thür einer Moschee einen Kurden, der weinte. »Warum weinst da?« fragte sie. Da erzählte er: »Ich habe mein Geld bei einem Depositär hinterlegt, und nun leugnet er es mir ab.« »Sei ohne Furcht!« sagte sie, »ich werde dir dein Geld wieder einhändigen.« Da ging sie nach. Hause, putzte sich, nahm dann ein Kästchen mit Gewändern und Geld und begab sich zum Malla2 Depositär. Zu dem Kurden sagte sie dann: »Nachdem ich eingetreten bin, komme auch[168] du und verlange dein Depot zurück«, und zu ihrem schwarzen Dienstmädchen: »Sobald der Kurde sein Depot bekommen hat, komme du und sage: ›Der Herr ist gekommen‹.« Als der Malla die schöne, geputzte Frau und bei ihr das Kästchen mit dem vielen Gelde sah, kam er ihr mit grossem Respekt entgegen. Sie sagte nun: »Mag dies bei dir deponiert sein; ich reise nämlich zu meinem Manne nach Bassra, und der Weg ist von räuberischen Kurden und Arabern unsicher.« Darauf trat der Kurde ein und forderte sein Depot zurück, und es wurde ihm ausgehändigt. Hernach kam die schwarze Sklavin jauchzend und tanzend herbei und rief: »Gnädige Frau! der Herr ist gekommen!« Da nahm das Weibchen das Kästchen zurück und sprach zum Malla: »Da mein Mann zurückgekommen ist, brauche ich das Depot nicht mehr bei dir in Verwahrung zu geben«, und sie begann zu tanzen, samt dem Dienstmädchen und dem Kurden. Als nun der Malla sie tanzen sah, sprang auch er auf und tanzte. Da sprach die Frau zum Malla: »Ich tanze, denn mein Mann ist gekommen; die Sklavin tanzt, denn ihr Herr ist gekommen; der Kurde tanzt, denn er hat sein Depot wiederbekommen: warum tanzest du aber?« Darauf erwiderte der Malla: »Auch ich tanze, weil ich noch nie eine solche Schelmin gesehen habe wie dich.«

1

Aus der Übersetzung.

2

Vgl. oben p. 66 n. 1.

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 168-169.
Lizenz:
Kategorien: