I
Erzählung von Ssalo und Abo.

[175] Verwandt mit 1001 N. (Br. Üb.) XIV p. 105 ff., WUK, VmSerb. p. 252 ff., GONZ., SicM. I p. 256 f., LESKBR., LitVlM. p. 475 f. und p. 574 und RIVIÈRE, CKabyles, p. 21 und p. 27 f.


Es waren einmal zwei Brüder; der eine wohnte in Amedîa und der andere in Baghdad, d.h. Ssalo in Amedîa und Abo in Baghdad. Da sagte Ssalo: »Ich will nach Baghdad zu meinem Bruder Abo ein Geschenk mit mir nehmen und ihn besuchen.« Auch Abo sagte: »Ich will meinem Bruder Ssalo ein Geschenk bringen und ihn besuchen.« Ssalo nahm nun einen Sack Zwiebelschalen und machte sich daran, nach Baghdad hinabzugehen. Abo wiederum nahm einen Sack Kameelmist und machte sich daran, nach Amedîa hinaufzugehen.1 In Kerkûk trafen sie einander. Sie küssten sich und fragten einander nach ihrem Befinden. »Wohin gehst du, Bruder?« fragte Abo den Ssalo. »Fürwahr«, antwortete dieser, »ich nahm einen Sack Linnen und sagte mir, den trage ich zu meinem Bruder und besuche ihn.« Auch Abo sprach: »Ich wiederum nahm einen Sack Zuckerrohr und sagte mir«: »Ich gehe nach Amedîa und besuche meinen Bruder.« Nun[175] sagte Ssalo: »Bruder! gesehen haben wir uns; nun auf! nimm du meinen Sack, und ich nehme deinen Sack, und kehren wir beide nach Hause zurück.« Ein jeder sagte sich im Innern: »Ich habe ein feines Geschäft gemacht.« Abo nahm dann den Sack des Ssalo, und Ssalo nahm den Sack des Abo, und sie gingen beide wieder nach Hause. Als Ssalo zu Hause voller Freude ankam, gingen ihm die Kinder entgegen und fragten ihn: »Was hast du uns vom Onkel mitgebracht?« »Ich habe euch einen Sack Zuckerrohr mitgebracht«, antwortete er. Da freuten sich seine Kinder und begannen zu lachen. Als er aber den Sack öffnete, kam Kameelmist heraus. Da rief er: »Haha! der hat mich gut über's Ohr gehauen!« Auch Abo kam froh nach Hause. Seine Kinder liefen ihm jubelnd entgegen und fragten ihn: »Was hast du uns vom Onkel mitgebracht?« »Schweigt«, rief er ihnen zu, »ich habe euren Onkel fein über's Ohr gehauen; ich bringe euch einen Sack Linnen.«

Nachher stellte Ssalo eine Rechnung an, und es ergab sich, dass er Abo gegenüber einen Verlust von zehn Para erlitten hatte. »Auf«, sagte er zu seiner Frau, »backe mir Brod, ich will nach Baghdad gehen, ich habe bei meinem Bruder zehn Para ausstehen, ich will hingehen, um sie mir zu holen.«2 Seine Frau buk ihm Brod, und er machte sich auf und ging nach Baghdad. Abo stellte auch seinerseits eine Rechnung an. Dabei fand er, dass sein Bruder hinter ihm mit zehn Para zurückgeblieben sei, und [er dachte sich,] dass er sie holen würde. »Auf!« sagte er zu seiner Frau, »lass für mich einen Sarg machen. Ich will mich hineinlegen, und ihr leget mich in die Todtengruft, und wenn mein Bruder kommt, saget ihm: ›Dein Bruder ist gestorben‹.«[176]

Er wurde darauf in einen Sarg gelegt und in die Gruft unter die Toten gesetzt. Als dann Ssalo in Baghdad ankam, kamen Abo's Frau und Kinder heraus, begannen zu weinen und sagten zu ihm: »Dein Bruder ist gestorben.« Auch Ssalo begann zu weinen, aber im Innern dachte er sich: »Das ist nur eine List, er will meine zehn Para verzehren.« Dann sagte er zu dessen Frau: »Geh, zeige mir das Grab meines Bruders, damit ich mich da satt weine. Wie konnte nur mein Bruder sterben, ohne dass ich ihn sah!« Da sagte die Frau zu ihm: »Seit drei Tagen ist er schon todt, jetzt ist er bereits verwest.« »Das geht nicht, dass ich das Grab meines Bruders nicht sehe«, erwiderte er. Die Frau ging dann mit ihm zum Grabe. Da setzte sich Ssalo hin und fing an zu heulen: »Ach! ach! mein Bruder!« Nach einer Weile sagten sie zu ihm: »Steh auf! wir wollen nach Hause gehen. Dein Bruder ist ja nun einmal tot, und er wird nicht mehr wiederkommen.« »Wie soll ich«, rief er, »meinen Bruder hier lassen und weggehen, ich will auch mit ihm sterben.« Sie gaben sich alle mögliche Mühe, dass er wegginge, er ging aber nicht weg. So liessen sie ihn denn dort, und sie gingen. Nun rief er: »Steh auf, du Hund, Sohn eines Hundes! Stelle dich nicht tot! Gieb mir meine zehn Para, damit ich nach Hause gehe!« Und er blieb drei Tage und drei Nächte vor dem Sarge sitzen.

In der dritten Nacht, um Mitternacht, kamen vierzig Diebe, die ein Haus ausgeplündert hatten, in jene Gruft, um den Diebstahl zu teilen.3 Bei der Teilung kam auf einen jeden ein Fez voll Geld, aber einer von ihnen blieb ohne Anteil, denn ihr Geld betrug 39 Fez voll. Sie hatten jedoch ein gutes Schwert gestohlen, und da sagten sie: »Mag das für den einen Teil sein.« (Sie sagten zu ihrem Gefährten: »Nimm das Schwert für das Geld.«) Da sagte er: »Unter folgender Bedingung[177] begnüge ich mich mit dem Schwerte: Ich haue damit auf diesen Sarg. Haut es den Sarg und auch den darin liegenden Toten durch, so nehme ich es, wo nicht, so nehme ich es nicht.« Er machte sich nun daran, das Schwert an dem Sarge zu probieren. Aber Ssalo sah das und dachte sich: »Wenn er den Sarg durchhaut, stirbt auch mein Bruder, und auch mich werden sie dann töten.« So sprang er denn auf und schrie: »Tote! erhebet euch!« Darauf erwiderte Abo aus dem Sarge heraus: »Schliesset euch mir an!« Als die Diebe das hörten, liessen sie das Geld liegen und liefen davon. Abo stieg dann aus dem Sarge heraus und sagte zu Ssalo: »Komm her! Gott hat uns das bescheert«, und sie theilten das Geld unter sich. Als sie fertig waren, sagte Ssalo: »Gieb mir die zehn Para, die ich bei dir ausstehen habe.« Aber Abo meinte: »Nur durch mich fiel dir so viel Geld zu, und du willst nicht von deinen zehn Para lassen!« »Nein«, erwiderte Ssalo. Und sie begannen mit einander zu streiten.

Inzwischen sagten aber die Diebe zu einander: »Wie sollten Tote sich erheben. Wir haben uns nur gefürchtet; Tote stehen nimmer auf. Lasst uns nachsehen.« Da gingen zwei von ihnen hin, um nachzusehen. Abo war aber an die Thür der Gruft gegangen, um zu sehen, was aus den Dieben geworden war. Als er nun zwei von den Dieben an die Thür der Gruft herankommen sah, riss er dem einen von ihnen seinen Fez weg und rief Ssalo zu: »Nimm diesen Fez für deine zehn Para!« Als die Diebe das sahen, liefen sie weg und riefen ihren Gefährten zu: »Laufet! lasst uns laufen! Alle Toten haben sich erhoben, und auf einen jeden kamen zehn Para von jenem Gelde. Aber ein Toter blieb ohne Anteil, und als ich an der Thüre ankam, riss man mir meinen Fez weg und gab ihn dem, der ohne Anteil geblieben war.« Die Diebe gingen dann nach Hause, und auch Ssalo und Abo begaben sich nach Hause.

1

Amedîa liegt in den kurdischen Alpen.

2

Zehn Para sind etwa 5 Pf. – Von Amedîa nach Baghdad braucht man etwa Stunden zu Pferde, da SOCIN nach PRSOC, KurdS. b p. 238 n. 6 von Baghdad nach Kerkûk 57 Stunden brauchte, und von Amedîa nach Kerkûk eben so weit ist.

3

Wir begegnen oft dem Kirchhofe als Versammlungsort für Diebsgesindel; vgl. 1001 N. I p. 125 und 1001 T. II p. 27 ff.

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 175-178.
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