Einleitung.

Die Volkslitteratur der Armenier ist wenig erforscht. Während ihre historische Litteratur bei den europäischen Gelehrten eine wohlverdiente Beachtung geniesst und eine Reihe, jedes Jahr in fast allen europäischen Sprachen, erscheinender Übersetzungen und Monographieen ihren wissenschaftlichen Wert immer mehr befestigt, ist die Volkslitteratur bis jetzt ganz unbekannt. Reich an schönen Märchen, Liedern, epischen Sagen jeglicher Art und kosmogonischen Erzählungen bietet sie einen überaus reichen Stoff für Forschungen im Bereiche der Literaturgeschichte, der Ethnographie und Philologie. Das Interesse, welches das Studium der armenischen Volkslitteratur darbietet, gewinnt noch mehr an wissenschaftlicher Bedeutung bei der Vergleichung mancher ihrer Zweige mit ähnlichen bei anderen Völkern. Ich spreche hier von den Märchen. Und in der That findet man bei näherer Bekanntschaft mit den armenischen Märchen eine so frappierende Verwandtschaft derselben mit den Märchen anderer Völker, wie z.B. der Slaven, Deutschen u.s.w. – eine Verwandtschaft, die bis in die Einzelheiten reicht – dass man sich unwillkürlich fragt, wie bei so von einander geschiedenen Völkern ähnliche Verwandtschaftszüge existieren können. An den Ufern des Wansees kann man dieselben Märchen hören, die man an der Wolga oder an der Donau zu hören bekommt. Dabei ist es interessant zu bemerken, dass manche armenische sowie auch viele andere orientalische Märchen dem Inhalte und manchen Einzelheiten nach eine ältere Abfassung desselben bei vielen europäischen Völkern zu findenden Märchens zu sein scheinen.

Wenn ich hier vom vergleichenden Altertum der Märchenabfassungen spreche, habe ich natürlich die von diesem oder jenem Volke entlehnten epischen Sagen im Auge, denn der asiatische Ursprung der Märchen (besonders der indische) ist jedenfalls viel wahrscheinlicher. In der folgenden Skizze will ich mich jedoch nur auf die faktische Seite der Frage beschränken und dabei jegliche Schlussfolgerung vermeiden. Ich gestatte mir nur auf einige[4] wesentliche Themen und Erzählungsweisen der armenischen Märchen1 hinzuweisen, durch welche diese Gattung der Volksdichtung der anderer Völker, besonders der Slaven und Deutschen nahe kommt.

1

Als Quellen benützte ich bei der Abfassung der folgenden Skizze hauptsächlich die Sammlungen armenischer Volkssagen, Legenden, Sprichwörter, Rätsel und Lieder, die der Pfarrer Sruanztianz, der beste Kenner des Volkslebens, der Vergangenheit des Volkes und der Volkslitteratur, in den rein armenischen Provinzen von Wan und Musch gesammelt hat. Gleichfalls benutzte ich dabei meine eigene Sammlung von Märchen und Sagen aus dem Kreise Alexandropol im Eriwanschen Gouvernement.

Quelle:
Chalatianz, Grikor: Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1887, S. IV4-V5.
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