Tanabata und Inkai.

[152] Am siebenten Tage des siebenten Monats begehen die Japaner einen Festtag, den sie das Fest der beiden Sterngötter Tanabata und Inkai nennen. Die Sterne, welche zu beiden Seiten des sanftfließenden Himmelsflusses oder der Milchstraße liegen, begegnen sich nur an diesem Tage und sonst niemals im Jahre. Es sind Mann und Frau, denen der große Himmelsgeist nur einmal im Jahre vergönnt hat, sich zu sehen und zu sprechen. Der eine Stern, der des Gottes Inkai, befindet sich in der Richtung des Steinbockes von der Milchstraße; der der Göttin Tanabata steht in unserem Sternbilde der Leier, welches man in Japan den Webstuhl nennt, und es ist der Stern der Weberin. Diese Weberin war die ungewöhnlich fleißige, einsam arbeitende Tochter des großen Himmelsgeistes, welche ihr Vater zum Lohn für ihren Fleiß an den Sterngott Inkai verheiratete, der damals noch an derselben Seite der Milchstraße wohnte und viele Felder besaß und bebauete, welche ihm reiche Ernten einbrachten. Tanabata, nachdem sie einen so reichen Mann bekommen, glaubte, es sei[152] nun nicht mehr nöthig, so fleißig zu arbeiten, und deshalb ließ sie den Webstuhl in Ruhe und begann mit ihrem Manne ein faules und lustiges Leben zu führen. Darüber erzürnte sich aber der große Himmelsgott gewaltig und verbannte zur Strafe für beide Tanabata's Gatten an die andre Seite des Himmelsstromes, damit sie wieder häuslich werde und den Webstuhl so fleißig rühre als früher. So viel nun auch beide Eheleute den großen Himmelsgeist anflehten, barmherzig zu sein und sein schlimmes Gebot zurückzunehmen, so ließ er sich doch nicht erweichen; es mußte bei seinem Befehle bleiben. Nur in etwas ward die Trennung gemildert, und dies bestand darin, daß an einem Tage des Jahres, und zwar am siebenten Juli, Inkai seine Gemahlin besuchen durfte. Zu diesem Zwecke wurde auf Geheiß des großen Himmelsgottes eine fliegende Brücke über den Himmelsstrom geschlagen, und auf dieser gelangte Inkai über den Fluß. Beider Gatten Geschick war damit unwiderruflich besiegelt, und sehnsüchtig erwarteten sie in jedem Jahre den siebenten Juli, an welchem Abends die Brücke erschien und Inkai fliegenden Fußes zu seiner Tanabata hinüber eilte. Doch die Stunden flogen rasch dahin, und wenn die Nacht entschwand, so nahmen beide rührenden Abschied; Inkai ging zurück, und kaum hatte er das jenseitige Ufer des Himmelsstromes betreten, so war die Brücke verschwunden.

Tanabata saß nun wieder zur Freude ihres Vaters emsig am Webstuhl, und Inkai bebauete seine Felder. Wie ehedem war Tanabata häuslich und alle lobten sie. Doch dies war nicht mehr ihr einziges Glück; sie dachte bei ihrer Arbeit nur an Inkai und zählte die Tage bis zum Wiedersehen.

Der ersehnte Tag kam freilich Jahr auf Jahr heran, doch nicht jedesmal brachte er die Zusammenkunft. Denn wenn es in der Nacht regnet und der Himmelsstrom anschwillt, so kann die Brücke nicht hinüber gelegt werden, und die Gatten müssen ein Jahr länger warten, bis sie sich wiedersehen dürfen. Das ist dann freilich eine lange traurige Zeit für Tanabata und Inkai, doch die Menschen unten auf der Erde sind keineswegs[153] betrübt, denn wenn es in der Nacht des siebenten Juli regnet, so sagt man, es gebe ein fruchtbares Jahr; wenn man aber den Hin- und Hergang Inkai's beobachten kann, soll das Jahr schlecht und der Reis theuer werden.

Immer aber nehmen alle Menschen noch heutigen Tages innigen Antheil an dem Schicksale der Tanabata und des Inkai, und besonders bringen die jungen Mädchen und deren Mütter diesen Gottheiten vielerlei Gelübde und Spenden dar, welche ihnen Hoffnung auf gute Ehemänner und brave Schwiegersöhne geben.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 152-154.
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