Yorimasa.

[216] Um die Mitte des zwölften Jahrhunderts regierte in Japan ein guter, von seinen Mannen sehr geliebter Kaiser Namens Konoye, der jedoch kränklich war und zu allen anderen Leiden auch noch eine besonders schwere Plage zu erdulden hatte. Diese Plage verursachte ein abscheuliches Unthier, einem Tiger an Leibesgestalt und durch seine gewaltigen Klauen gleich, aber mit dem Kopfe eines Affen und mit einem langen, mächtigen Schlangenschweife versehen. Dieses Unthier, das die Japaner den Nuye nennen, kam gegen Abend auf das Dach des kaiserlichen Palastes in Kioto und stimmte ein Geheul an, das Niemand zur Ruhe kommen ließ. Dasselbe erreichte um vier Uhr Morgens, zur Tigerstunde nach alter Bezeichnung, seinen Höhenpunkt; bald danach verschwand das Unthier. Der Kaiser ward durch diesen Spuk und durch den giftigen Hauch des Nuye immer kränker und bat wiederholt seine Krieger, den Kampf mit dem Ungeheuer[216] zu wagen; doch keiner war beherzt genug, das Abenteuer zu bestehen, bis endlich an Yorimasa, einen jungen Krieger aus dem Geschlechte der Minamoto, die Reihe kam, beim Kaiser den Wachtdienst zu versehen. Dieser konnte die Qualen seines Gebieters nicht länger mit ansehen und beschloß, wenn es sein müsse, ganz allein den Kampf zu wagen, indem er auf seine Kraft und Geschicklichkeit im Handhaben des Bogens vertrauete. Er hatte jedoch einen treuen Diener, Inohayata, der es sich nicht nehmen lassen wollte, seines Herren Lebensgefahr zu theilen; mit einer Fackel und einem scharfen Schwerte versehen, blieb er an dessen Seite.

So traten die beiden auf den Hof vor den Palast hinaus, und beim Scheine der Fackel sah alsobald Yorimasa die Augen des Ungethüms grauenhaft funkeln. Im Nu war der Pfeil auf der Sehne, der Bogen angezogen, und mit fürchterlichem Schrei stürzte der Nuye, ins Auge getroffen, vom Dache herunter. Rasch lief Inohayata auf ihn zu und hieb ihm den Kopf ab.

Der Mikado beschenkte den tapferen Bogenschützen, der ihn von dem Unthier befreit und ihm also das Leben gerettet, mit einem der berühmtesten Schwerter seiner Schatzkammer und erhob ihn zu großen Ehren. Das dankbare Volk aber verkündet seinen Ruhm bis zum heutigen Tage.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 216-217.
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