Yoschinaga.

[233] Kaum hatte die Familie der Minamoto den entscheidenden Sieg über Kiomori's Söhne und Nachfolger und über die sämmtlichen Anhänger der Familie der Taira erfochten, als zwischen den Häuptlingen der siegenden Partei die Zwietracht ausbrach. Vor Allen war ein Vetter Yoritomos, Yoschinaga, anmaßend und bestrebt, die Früchte des gemeinsamen Handelns für sich allein zu ernten. Schon war es ihm gelungen, beim Kaiser seine Ernennung zum Oberfeldherrn zu veranlassen, welche Yoritomo für sich selber beanspruchte, als alle seine Verwandten sich gegen ihn erhoben und ein mächtiges Heer gegen ihn aussandten. Befehligt wurde dasselbe von zwei Halbbrüdern Yoritomo's, von Noriyori und dem hochgefeierten Helden Yoschitsune. Rasch und entschlossen drangen diese gegen Kioto vor, in welchem Yoschinaga seine Streiter gesammelt hatte, und begannen in der Nähe der Stadt den Kampf mit solchem Ungestüm, daß Yoschinaga, als er auf die Kunde von dem Angriff in das[233] Feld eilte, schon in das Gewirre der Flüchtlinge gerieth, welche vor den Streitern Yoschitsune's nach allen Seiten hin auseinander stoben. Zähneknirschend mußte Yoschinaga selber weichen, denn es war zu spät, seine von Angst und Schrecken ergriffenen Soldaten auf's neue zu sammeln und das Gefecht zum Stehen zu bringen. Er wandte sich aber seitwärts von dem wilden Getümmel der Flüchtlinge zwischen Reisfelder und ritt auf den Dämmen zwischen den einzelnen Ackerstücken hin; Niemand begleitete ihn als sein getreuer Vasall Kanehira und dessen Schwester Tomoye, eine der Frauen Yoschinaga's. Diese Tomoye stand aber an Muth und Stärke keinem Manne nach und hatte an ihres Gatten Seite schon oftmals Proben der größten Tapferkeit gegeben.

Die Soldaten Yoschitsune's begaben sich alsobald eifrig auf die Verfolgung Yoschinaga's, den sie an seiner Helmzier als einen der feindlichen Feldherren erkannten. Lange hielt sie Kanehira, der einen Bogen von gewaltiger Größe gespannt in der Hand hielt und sich beständig umblickte, in weiter Entfernung; da aber trat Yoschinaga's Pferd fehl und stürzte sammt dem Reiter von dem schmalen Damme zwischen zwei Reisfeldern in eins der sumpfigen Feldstücke. Es überschlug sich und war nicht im Stande, sich herauszuarbeiten, und Yoschinaga, der mit Mühe den Damm wieder erklettert hatte, bat seinen Freund Kanehira, ihm sein Pferd abzulassen. Kanehira wandte sich um und war im Begriff, die Bitte Yoschinaga's zu erfüllen, als diesen aus den Reihen der Feinde, welche unterdessen näher herangekommen waren, ein Pfeilschuß mitten auf die Stirn traf und zum Tode verwundete. Nun ergriff den Kanehira wilde Verzweiflung; acht Pfeile waren ihm noch geblieben, und mit jedem tödtete er einen der Verfolger; dann zerschlug er Bogen und Köcher, steckte die Spitze seines Schwertes in den Mund und stürzte sich kopfüber vom Pferde, so daß das Eisen ihm bis ins Herz drang. Tomoye war unterdessen von Feinden umringt, allein sie trieb sie zurück und erschlug den[234] Führer, dessen Haupt sie als Sühnopfer ihrem sterbenden Gatten brachte. Dieser aber beschwor sie mit den letzten Worten, die er noch zu reden vermochte, sie möge nicht im Kampfe den Tod an seiner Seite suchen, sondern leben bleiben, um für das Heil seiner Seele zu beten. So legte sie denn ihre Waffen auf immerdar ab; die Feinde, die ihren Muth und ihre Treue ehrten, ließen sie ungehindert ziehen, und sie begab sich in ein Kloster fern im Gebirge. Hier verlebte sie den Rest ihrer Tage in tiefer Trauer und in unablässigem Gebete für ihren geliebten Gemahl und ihren in ruhmvollem Verzweiflungskampf an seiner Seite gefallenen Bruder.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 233-235.
Lizenz:
Kategorien: