Ihatschi.

[312] Man erzählt, daß einstmals im Norden von Japan ein Priester Namens Ihatschi lebte, der viel fromme Werke that, viele Tempel – darunter auch den berühmten Tempel von Miyaschima – gründete und im Rufe besonderer Heiligkeit stand. Nicht selten ward er deshalb von weltlich Gesinnten verspottet, und ein hoher Beamter, Kato mit Namen, ein Freigeist, veranstaltete einstmals eigens ein Gastmahl, durch welches er den frommen Ihatschi in Versuchung führen und zugleich lächerlich machen wollte. Er setzte ihm daher Vögel und Fische vor, deren Genuß den Priestern aufs strengste untersagt ist, und hatte zur Bedienung die schönsten jungen Mädchen bestellt, die ihm zur Verfügung standen. Ihatschi blieb ganz ruhig; den Rosenkranz in den Händen und das Haupt gesenkt, machte er keine Bewegung, als daß er mit den Lippen ganz leise einige Worte vor sich hin murmelte. Kaum aber sahen die Umstehenden, daß er den Mund bewegte, so wurden die Vögel, welche auf der Tafel zubereitet standen, wieder lebendig und flogen mit frohem Geschrei von dannen. Die Fische begannen zu zappeln; da ergriff sie Ihatschi und setzte sie in einen Bach, der durch den Park des Kato dicht neben dem Zimmer, in welchem sie saßen, dahinfloß,[312] und fröhlich plätschernd schwammen sie fort. Hierauf wandte er sein Antlitz auf die Dienerinnen, und sofort schien es allen Anwesenden, als ob sie zu Todtengerippen würden. Da war der ungläubige Wirth bekehrt; in tiefer Reue und Zerknirschung warf er sich vor Ihatschi zu Boden und flehete die Götter um Verzeihung an. Hierauf ließ Ihatschi den bösen Zauber verschwinden, und die Mädchen waren wieder jung und frisch wie vorher.

Einstmals sahen die Leute den Ihatschi zu ihrer großen Verwunderung von einer Anzahl sehr schöner Mädchen begleitet. Warum, so fragten sie, heuchelt der Priester Entsagung, wenn er nun doch nicht verschmäht, mit reizenden Frauen umzugehen? Als aber Ihatschi dies hörte, lächelte er und sprach zu seinem Gefolge: »Ihr seht, man verargt es mir, daß ihr um mich seid; ich entlasse euch eures Dienstes!« Und im selben Augenblicke wurden die vermeintlichen Mädchen zu Meerdrachen, die unter Sturm und Unwetter dem nahen Ufer der See zueilten und in den Wellen verschwanden. Es waren dienstbare Geister des Drachen- und Meergottes gewesen, der den Ihatschi wegen seiner Frömmigkeit in hohen Ehren hielt und dies auch noch bei Ihatschi's Tode zeigte.

Als Ihatschi sein Ende herannahen fühlte, beschloß er, ein tausendtägiges Fasten anzutreten, um frei von allem irdischen Stoffe um so bälder und sicherer unter die seligen Geister versetzt zu werden. Er führte dasselbe aber nicht ganz zu Ende; schon fünfzig Tage vor Ablauf jener Zeit erschien eine rosenrothe Wolke, die einen herrlichen Wohlgeruch ausströmte, und trug seine Seele gen Himmel. Sein Leib ward, den Gebräuchen seiner Sekte gemäß, verbrannt; als man aber die Asche und die verbrannten Reste der Gebeine sammeln und bestatten wollte, kam vom nahen Meere eine hohe Fluthwelle und nahm alle irdischen Reste Ihatschi's bis auf die letzten Spuren mit sich fort. Diese Fluthwelle hatte der Drachengott eigens gesandt, um Ihatschi die letzte Ehre zu erweisen und alles, was von ihm hienieden geblieben war, an sich zu nehmen.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 312-313.
Lizenz:
Kategorien: