Die Nio oder riesigen Tempelwächter.

[320] Vor allen buddhistischen Tempeln stehen die Nio, zwei riesige, aus Holz geschnitzte Gestalten, rechts und links vom Eingange, von wildem Aussehen, mit löwenartigen Häuptern und Kronen darauf und mit Keulen bewaffnet.

Sie tragen nur eine breite Binde um die Lenden und höchstens noch ein fliegendes Gewand oder Fell, das über den Rücken hinabfällt, so daß man ihren athletischen Gliederbau deutlich sehen kann. Manchmal sind sie der eine grün, der andere roth bemalt, immer aber ist jeder für sich in einen mit Drahtgitter umzogenen Raum eingeschlossen.

Trotz ihres wilden Aussehens sind sie keineswegs den Menschen feindlich; nur den Bösen verwehren sie den Eintritt in die Heiligthümer. Wer sich aber frommen Sinnes naht, dem sind sie hold und geben auch bereitwillig den Besuchern des Tempels zu erkennen, ob ihre Gebete den Göttern angenehm sind und Erhörung finden werden. Wer sie darum befragen will, braucht nur sein Gebet auf einen Papierstreifen aufzuschreiben, diesen zu kauen und den feuchten Klumpen durch das Gitter einem der Riesen anzuwerfen. Haftet das Papier an der Oberfläche der Bildsäule, so findet der Bittende Gehör im Tempel, fällt es aber ab, so zieht er betrübt von dannen, denn alsdann kann er für diesmal nicht auf Gewährung seiner Bitten rechnen.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 320-321.
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