Das Federkleid.

[349] An der Küste von Suruga, zu Miwo, wohnte einst ein Fischer Namens Hakurioo. Als dieser eines Tages im Sonnenschein am Gestade von seiner Arbeit ausruhete, sah er ein hellglänzendes, weißes Gewand vor sich liegen, zart und durchscheinend und ganz aus Federn zusammengewoben. An den Stellen, wo die Schultern sich befinden mußten, hingen zwei Flügel an dem Wunderkleide. Begierig nahm er es zu sich und wollte es nach Hause nehmen und sorgfältig verwahren, als ein wunderschönes Mädchen vor ihm erschien und laut jammernd ihr Gewand von ihm zurückforderte. Hakurioo war Anfangs gar nicht gewillt, seine Beute fahren zu lassen; doch das Mädchen sagte unter fortwährenden Klagen und Thränen, sie sei eine Himmelsgöttin, müsse aber elendiglich auf Erden weilen, so lange sie ihr Federkleid nicht habe, das sie beim Baden abgelegt, und das auf diese Weise widerrechtlich in seine Hände gekommen sei. Da ward der Fischer von Mitleid bewegt und sprach: »Wohlan[349] denn, ich will dir dein Gewand zurückgeben, wenn du mir dafür den himmlischen Tanz vortanzest, mit dem ihr Himmelstöchter durch die Wolken schwebt.« Die Maid erwiderte: »Ja, gieb mir mein Gewand, und du sollst den schönsten Tanz erschauen, den ich zu tanzen vermag.« Der Fischer bedachte sich aber noch und sagte: »Nein, erst tanze, dann gebe ich dir dein Kleid!« Darauf aber erzürnte sich die himmlische Maid und rief: »O schäme dich, das Wort einer Göttin zu bezweifeln! Geschwind, gieb mir das Gewand, denn ohne dasselbe vermag ich nicht zu tanzen; es soll dich nicht gereuen, das verspreche ich dir!« Darauf reichte ihr denn Hakurioo das Federgewand; sie legte es sofort an und erhob sich in die Lüfte. Allein getreu ihrem Worte führte sie vor des Fischers erstaunten Blicken den herrlichsten Tanz auf, den man sich nur denken kann, und dabei sang sie so wunderschöne, sinnberauschende Melodien, daß Hakurioo nicht wußte, wie ihm geschah. In immer schöneren Windungen erhob sie sich höher und höher, allein es dauerte lange, bevor sie den Blicken des entzückten Fischers entschwand, und bis in einem lichten Gewölk, das dem Haupte des Fuji-Yama zuschwebte, die letzten Töne des Göttersanges vor seinen Ohren verklangen.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 349-350.
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