Die Höhle von Hiÿe.

[363] Nicht weit von einem Dorfe in Idzumo, Namens Hiye, liegt ein hoher, wild zerklüfteter Berg, den man den Schwertberg nennt, und an dessen Hängen sich ein Tempel befindet, der einem besonderen Gotte, Schwertgott geheißen, gewidmet ist. Dieser Gottheit opfert man vor einer großen, dunklen Höhle; es ist jedoch Niemand gestattet, in dieselbe hineinzugehen.

Trotz dieses Verbotes, so erzählen die Leute von Idzumo, hatte einst einer der Priester, dem die Verehrung jenes einheimischen Stammesgottes übertragen war, es gewagt, in die Höhle einzudringen. Er hieß Utschisono und war aus Hiye gebürtig. Indessen hatte er sich gebührend durch Gebet und Kasteiung auf dies Wagniß vorbereitet und deshalb auch sieben Tage und sieben Nächte aufs strengste gefastet.

So geschah ihm denn nichts böses, als er in die dunkle Höhle trat. Lange Zeit vermochte er gar nichts zu unterscheiden; endlich aber gewahrte er in einem Winkel einen Greis von sehr ehrwürdigem Aussehen. Dieser redete ihn gütig an und gestattete ihm, näher zu treten und die Höhle sammt allem, was darinnen war, gehörig in Augenschein zu nehmen. Nur verbot er ihm aufs allerstrengste, jemals auch nur ein Wort von dem, was er gesehen, irgend Jemand zu sagen.

Als danach aber der erste Festtag kam, an welchem der Priester Beschwörungen und Gebete in seinem Tempel vornahm, hatte sich die Nachricht von dem Betreten der Höhle seinerseits unter der Menge verbreitet, und deshalb bestürmte ihn Jedermann, doch etwas von den merkwürdigen Dingen mitzutheilen, welche er gesehen habe. Lange Zeit weigerte er sich hartnäckig, endlich aber trug die Eitelkeit den Sieg davon, und so wollte er eben den Mund öffnen, um die Geheimnisse der Höhle zu[364] offenbaren, als er todt zu Boden stürzte. Kein Wort von dem, was die Höhle barg, war über seine Lippen gekommen.

Man sagt, daß es jedem ähnlich ergehe, der durch irgend einen Zufall in eine Höhle oder an einsame Stellen tiefer Thäler geräth und dort die Gottheit des Ortes erblickt. Es geschieht ihm nichts, so lange er die dort erschauten Dinge für sich behält; will er aber den Versuch machen, davon zu reden, so stirbt er eines jähen Todes, bevor er ihn zur Ausführung gebracht hat.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 363-365.
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