Der gespenstische Tanuki.

[381] Einst hatte einer der Fürsten von Tosa aus der Familie Yamanutschi einen Sohn, der schon in früher Jugend einen sehr scharfen Verstand zeigte und dadurch alle Welt in Erstaunen setzte. Da er ebenso gut von Gemüthsart als weise und zugleich in allen ritterlichen Künsten erfahren war, so wuchs er zu großer Freude seines Vaters heran, der ihm, als er zum Jüngling heranreifte, viel Freiheit ließ und volles Vertrauen schenkte.

Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen war das Fischen, und sehr oft machte er, von nur wenigen Vasallen begleitet, weite Ausflüge, um dieses Vergnügens sich erfreuen zu können. So war er denn einstmals mit nur einem Edlen seines Gefolges aufgebrochen und war zu einem benachbarten großen Flusse gegangen. Allein das Wetter ward sehr schlecht; unerwartet kamen dunkle Wolken heran, der Wind begann zu heulen, und der Prinz[381] und sein Begleiter mußten gar bald ihre Angelgeräthe und ihre geringe Beute zusammenpacken und sich schleunig auf den Heimweg machen. Allein der Regen überfiel sie und war so heftig, daß er die Pfade sehr bald durchweichte, und es vermochten die beiden nur mühsam, bis auf die Haut durchnäßt, ihren Weg zu verfolgen. So langten sie, etwa halbwegs, an einer kleinen Brücke an, und hier sahen sie, mitten im strömenden Regen, ein sehr schönes Mädchen stehen, dessen Alter sie auf etwa sechzehn Jahre schätzten. Als sie näher kamen, begann das Mädchen zu wehklagen und sagte: »Ich bin unterwegs nach Hause, habe mich aber verirrt und bin außer Stande, noch lange zu marschiren; bitte, nehmt mich mit euch, habt Erbarmen und laßt mich hier nicht in der Einöde verkommen!« Der Begleiter des Prinzen war sehr erstaunt, als dieser nicht mit seiner gewohnten Leutseligkeit antwortete, sondern sich begnügte, das Mädchen scharf ins Auge zu fassen. Ihm selber flößte die junge Schöne nicht nur Mitleid, sondern auch heftige Zuneigung ein, und er drang deshalb in den Prinzen, er möchte doch das hülfsbedürftige Wesen mitgehen lassen oder ihm selber gestatten, sich desselben anzunehmen. Als der Prinz aber diese Worte hörte, verriethen seine Mienen große Besorgniß. Er trat noch näher an die Unbekannte heran, dann aber flog sein Schwert aus der Scheide, und von einem wuchtigen Hiebe zu Tode getroffen, sank das Mädchen zu Boden. Entsetzt schrie der Begleiter des Prinzen auf; er überhäufte ihn mit den heftigsten Vorwürfen und sagte, für solch abscheuliche That müsse er aufs strengste zur Verantwortung gezogen werden. »Das wird sich finden,« entgegnete der Prinz ganz ruhig, »jetzt folge mir und trag unsere Geräthe und Fische vollends heim!« Grollend folgte der Andere, und kaum waren sie im Palaste des Fürsten angelangt, so eilte er auch schon zu demselben und erhob die Klage wegen des grausamen Mordes eines hülflosen Weibes gegen den Prinzen. Der Fürst war darüber sehr erstaunt und zugleich betrübt und ließ sofort seinen Sohn herbeiholen. Er theilte ihm mit, was er so eben[382] vernommen und herrschte ihn mit zornigen Worten an, er möge sich verantworten. Der Prinz aber sprach mit derselben Ruhe, die ihn seit dem Vorfalle nicht verlassen: »Glaubt nicht, hoher Vater, daß ich aus böser Mordlust oder aus Uebereilung gehandelt habe; ich hatte gewichtige Gründe und habe durchaus recht gethan. Das Mädchen, das wir trafen, war kein wirkliches Mädchen, sondern eine Spukgestalt, und sie wird sich ganz gewiß als eine solche enthüllen, wenn an dem Orte, wo ich sie tödtete, nachgeforscht wird; vermutlich rührt dieser Zauberspuk von den Tanuki her, welche dort hausen, und von denen einer durch die Fischbeute angelockt sein mochte, die er bei uns witterte. Als ich daher sah, wie das angebliche Frauenzimmer meinen Gefährten schon umgarnt hatte, und fürchten mußte, daß er in einen bösen Handel gerieth, da zögerte ich nicht und rettete ihn durch Tödtung des unheimlichen Wesens.« Augenblicklich begab sich nun der Begleiter des Prinzen nebst zwei anderen Kriegern des fürstlichen Gefolges wieder auf den Weg zu der Brücke, auf welcher die Begegnung stattgefunden, und da sahen sie denn auch an eben der Stelle, an welcher der Prinz das Mädchen niedergehauen, die Leiche eines großen Tanuki, und dieser war durch einen Schwerthieb genau so wie damals das Mädchen getroffen. Nun war kein Zweifel mehr; der Prinz ward von Allen belobt und gepriesen. Sein Vater, der Fürst, befragte ihn aber noch, wie er denn habe wissen können, daß das Mädchen eine Zaubergestalt sei. Er erwiderte, argwöhnisch sei er von Anfang an gewesen, denn die Stelle sei von jeder menschlichen Wohnung viel zu weit entfernt, als daß man ohne weiteres der Erzählung der angeblich Verirrten hätte Glauben schenken können. Deshalb habe er sehr scharf aufgemerkt und, als er näher herangetreten sei, sofort bemerkt, daß die Kleider des Mädchens trocken gewesen seien. Das aber wäre bei einem anderen als einem Spukgebilde in dem abscheulichen Regenwetter geradezu eine Unmöglichkeit gewesen, und so habe er die gespenstische Natur des vermeintlichen Mädchens klar erkannt. Nun belobte ihn auch[383] sein Vater und zollte seinem Scharfsinn nicht minder Lob als seiner Entschlossenheit; er hielt ihn fortan für würdig, an den wichtigsten Berathungen Theil zu nehmen.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 381-384.
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