X. Erzählung.

[50] Er gieng hierauf abermals auf die frühere Weise den Todten zu holen. Vermittelst der stolz lautenden Worte ihn zum Herabsteigen vermögend, steckte er ihn in seinen Sack, schnürte diesen mit dem Seile zu, lud ihn sich auf den Kücken und begab sich des Weges. Siddhi-k ýr sprach wie früher; als jedoch der Chânssohn, ohne etwas zu sagen, mit dem Kopfe das Zeichen gegeben, da erzählte Siddhi-k ýr abermals eine Geschichte.

Früh vor Zeiten lebten in einem Reiche Namens Odmilsong zwei Brüder. Obwohl sie aus den gleichen Familien Frauen genommen hatten, so wurde doch der jüngere Bruder, weil der ältere in hohem Grade geizig und missgünstig war, diesem entfremdet. Einstmals machte der ältere Bruder, der sich ein tüchtiges Vermögen erworben und nach und nach reich geworden war, Anstalten, den sämmtlichen Bewohnern der Gegend ein grosses Gastmahl zu geben. Der jüngere Bruder dachte bei sich: »Obgleich mein älterer Bruder bisher nicht gut gehandelt hat, so wird er wohl jetzt, wo er einer zahlreichen Gesellschaft ein grosses Fest gibt, schon aus Aufmerksamkeit für meine Frau doch auch mich einladen.« So dachte er, indess jener lud ihn nicht ein. Den andern Tag dachte er bei sich: »Obgleich er gestern keine Einladung ergehen liess, so dürfte er mich doch sicherlich heute einladen.« So dachte er, indess jener lud ihn nicht ein. Den nächsten Tag dachte er bei sich: »Vielleicht lässt er die Einladung auf einen Branntwein an mich ergehen.« So dachte er, wurde aber doch nicht eingeladen. Darob grämte er sich gewaltig in seinem Innern. »Heute Nacht,« dachte er bei sich selbst, »wenn die Leute im Hause berauscht sind, geh' ich und werde von den im Hause befindlichen schönen Sachen etwas stehlen.« Mit diesen Gedanken machte er sich auf, schlich sich in das Haus und verbarg sich heimlich in der Vorratskammer. Die Leute im Hause hatten Branntwein getrunken, bis es dunkel geworden, und lagen davon berauscht bereits im Schlafe. Die Frau des älteren Bruders führte diesen berauscht[50] heran und legte sich mit ihm in der Vorratskammer nieder. Nach einer Weile stand sie jedoch wieder auf, kochte Essen in einem Gefässe, nahm Fleisch und verschiedenerlei Speisen, Knoblauch, Zwiebeln und mancherlei dergleichen schmackhafte Esswaaren mit sich und gieng hinaus. Der Mann im Verstecke, noch nicht trauend, sprach bei sich selbst: »Mein Stehlen will ich erst nachher ausführen, zuvor will ich diese prüfend beobachten,« und folgte hinter ihr her. Hinter dem Hause dieser Frau erhob sich ein hoher Berg mit einer schauerlichen Leichenstätte. Auf diesen stieg sie hinauf; er folgte ihr hinten nach. Inmitten eines beständig im Grün erprangenden Rasens befand sich daselbst eine weiche Steinplatte; dahin begab sie sich. Dort lag ein erstarrter Mensch ausgestreckt. Dieser war der Geliebte der Frau des älteren Bruders gewesen. In inniger Liebe ihm ergeben, wollte sie ihn nicht den Vögeln und reissenden Thieren zur Speise dienen lassen. Den Todten besuchte sie jetzt. Schon von ferne rief sie ihn mit dem Namen, und als sie unter Weinen ihn erreicht, umschlang sie den Hals des Todten. Der jüngere Bruder sass nahe dabei, alles mitansehend. Die Frau legte ihr Essen vor dem Todten zurecht und wollte es ihm reichen. Da aber die Zähne desselben, fest zusammengepresst, die Speisen nicht zermalmten, so öffnete das Weib mit ihrem eigenen kupfernen Löffel die Zähne, kaute die Speisen selbst und schob sie dem Todten vermittelst ihrer Zunge in den Mund. Plötzlich aber sprang der Löffel entzwei brechend ab von den Zähnen des Todten und schlug der Frau die Nasenspitze ab; zugleich aber wurde ihr die Zungenspitze von den zusammenklappenden Zähnen des Todten abgebissen und blieb zwischen denselben zurück. Blutend nahm das Weib ihre Essgeschirre und entfernte sich. Der jüngere Bruder kam früher als sie zurück und verbarg sich wieder in der Vorratskammer. Bald darauf kam die Frau und legte sich an die Seite ihres Mannes. Nach einer Weile, als der Mann im Schlafe zu sprechen und zu seufzen begann, rief die Frau aus: »o weh! o weh! solch ein Mann bist du geworden?« Der Mann fragte: »was ist denn geschehen?« Die Frau versetzte: »Meine Zungenspitze, meine Nasenspitze hast du abgebissen; wenn einer Frau diese beiden fehlen, was soll aus ihr werden?«

So sehr auch der Mann betheuerte: »Solches habe ich nimmer gethan,« so behauptete doch die Frau: »Ich habe es leider erfahren müssen; doch morgen will ich es zur Kenntniss des Chânes bringen.« So stritten sie sich unter einander. Der jüngere Bruder aber entfernte[51] sich, ohne in dieser Nacht zu stehlen. Des anderen Tages in der Frühe begab sich die Frau zum Chân, berichtete die erdichtete Thatsache und sprach zum Schlüsse: »Mein Mann war früher nicht so; diese Nacht aber hat er etwas so Ungeziemendes gethan! was für eine Strafe eben gesetzlich ist, deren Vollzug mag er erleiden.« In Folge dessen liess der Chân den Mann zu sich kommen, und als er sie beide einander gegenüberstellte, da brachte die Frau der glaubwürdigen Reden viele vor; der Mann dagegen vermochte kein anderes Wort herauszubringen als: »In dieser Nacht weiss ich von nichts.« »Von dir,« sprach der Chân, »ist das sehr ungeziemend,« und gebot ihn an den Pfahl aufzuknüpfen. Und als er fast auf dem Punkte war zu sterben, da eilte der jüngere Bruder herbei, indem er vernahm, dass es um den älteren also stehe. Auf seine Frage, was für ein Verbrechen denn von ihm begangen worden, erzählte der ältere Bruder den ganzen Sachverhalt. Der jüngere Bruder eilte zum Chân und sprach: »Es geruhe der Chân mich anzuhören. Du nimmst vom ersten besten auf guten Glauben hin unwahre Thatsachen an; lass den älteren Bruder und dessen Frau in meiner Gegenwart auftreten, dann will ich mich deutlich aussprechen.«

Als der Chân sie an demselben Tage einander gegenüberstellte, da erzählte der jüngere Bruder ausführlich, wie die Frau seines älteren Bruders nach der Leichenstätte gegangen. »Wenn es der Chân nicht glauben will«, sprach er, »nun, in dem Munde des Todten blieb die Zungenspitze der Frau und ein Stück des kupfernen Löffels zurück, und auf der Nasenspitze des Todten klebt Blut. Schicke nur hin, um nachzusehen.«

Der Chân schickte, um nachzuschauen, und weil es sich so verhielt, wie jener gesagt, sprach er: »Du hast Recht gehabt.« Den älteren Bruder gebot er desshalb vom Pfahl abzunehmen und liess dafür die Frau durch Aufknüpfen am Pfahle das Leben büssen.

Bei diesen Worten der Erzählung rief der Chânssohn aus: »Das war ganz in der Ordnung!« Und Siddhi-k ýr versetzte: »Sein Glück verscherzend hat der Chân seinem Munde Worte entschlüpfen lassen,« und mit dem Ausrufe: »In der Welt nicht zu bleiben ist gut!«, riss er sich los und eilte davon.

Aus Siddhi-k ýr's Erzählungen das zehnte Capitel: des Mannes und der Frau Abenteuer.

Quelle:
Jülg, B[ernhard]: Kalmükische Märchen. Leipzig: F.A. Brockhaus, 1866, S. 50-52.
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