XII. Erzählung.

[58] Als er hierauf abermals, in der vorigen Weise, den Siddhi-k ýr zu holen, sich nach dem kühlen Todtenhaine begeben und die stolz lautenden Worte gesprochen hatte, kam der Todte herabgestiegen. Er steckte ihn in den Sack, band diesen mit dem Seile zu, verzehrte seinen Butterkuchen, lud ihn auf den Rücken und trat die Wanderung an. Siddhi-k ýr wiederholte seine früheren Worte. Als der Chân, ohne etwas zu erwiedern, mit seinem Haupte das Zeichen gegeben, erzählte Siddhi-k ýr abermals eine Geschichte.

Früh vor Zeiten war einmal ein sehr gesegnetes Land, »Blumenschmuck« geheissen. Ringsum an den äusseren Grenzen gab es eine Fülle von Sandel- und Mangobäumen, von Reben und verschiedenen Obstbäumen, das Innere desselben war reich an verschiedenartigen Feldfrüchten und sanft hinströmenden Flüssen. Mitten in solch einem Lande lag eine Stadt, die »goldene« genannt, von Vorstädten rings umgeben. Dort herrschte ein Chân mit dem Beinamen »der mit dem Kinder-Verstand« (hüwön ojôtu). Einmal zu einer Zeit sprach er zu einem Manne aus seinem Volke, welcher »der mit dem hellen Verstande« (gegên uchâtu) zubenannt war: »Man nennt dich den mit dem hellen Verstand'; wenn das wahr ist, so entwende mir stehlend diesen meinen Lebenstalisman; bist du im Stande ihn zu entwenden, so gebe ich dir Geschenke, die dir Freude machen werden; vermagst du es nicht, so verheere ich deine Heimatsstätte und reisse die Augen dir aus.«

Obgleich der Mann sich zu bemerken erlaubte: »das bin ich nicht im Stande«, so erliess es ihm der Chân doch nicht, und jener versprach, in der Nacht des fünfzehnten den Diebstahl zu versuchen.

Der Chân aber band darauf den Edelstem an einen Pfeiler an, und nachdem er daran ganz fest sass, liess er, ohne sein Thor zu schliessen, von seinen Leuten strenge Wache halten. In der Nacht des fünfzehnten nun nahm der verständige Mann trefflich mundenden Reisbranntwein mit sich und bot ihn den Wache haltenden Thürhütern des Chânes an.[58] Dabei sprach er: »Obwohl ich dem Chân erklärte: ›den Edelstem zu entwenden bin ich nicht im Stande‹, so hat er mir doch keine Nachsicht gewährt.« Während er so sprach, machte er sie trunken. Darauf nahm er eine steinhart gewordene Blase, eine aus Gras verfertigte Mütze und drei Steine mit sich und begab sich um Mitternacht zum Residenzpalast des Châns. Den Wächtern am Thore hatte der Chân geboten, die Wache zu Pferde zu halten. Diese waren von der Schläfrigkeit überwältigt worden, und da sie sich dem Schlummer überlassen hatten, so gewann er das Thor. Er führte einen nach dem andern hinweg, nahm sie von den Rossen herab und setzte sie wie zu Pferde auf eine eingestürzte Mauer von Lehm. Hierauf trat er in das Innere des Palastes ein. In der Küche lagen die Diener, ohne die Kleider auszuziehen, in der Nähe des Feuers, mit der Vorbereitung zum Anzünden desselben beschäftigt, eingeschlafen. Dem, der dem Feuer zunächst lag, zog er die Grasmütze über den Kopf und dem nächsten steckte er die drei grossen Steine in die Aermel. Als er darauf in das Zimmer des Châns kam und dieser im Schlaf lag, zog er ihm die steinharte Blase über. Den Lebenstalisman hatte man zwar am Pfeiler angebunden, aber die Leute lagen schlafend rings um ihn herum; diese band er mit ihren Haaren zusammen. Dann ergriff er den Talisman und lief mit ihm davon. Da ertönte es von allen Seiten: »Ein Diebstahl wurde verübt!« Die an den Haaren Zusammengebundenen riefen: »zieh mich nicht, zieh mich nicht!« und verblieben in ihrer gebückten Stellung. Der Chân aber sprach zu ihnen: »Schnell, eilt nach! nicht nur der Talisman ist entwendet, sondern hier auf meinem Kopf liegt auch ein Felsstück.« Dem Diener rief er zu: »Zünde schnell das Feuer an!« Als dieser das Feuer anblies, ergriff die Flamme die Grasmütze und es brannte ihm der Kopf. Und indem der nächste seine Ärmel schüttelte und hineinfahren wollte, schlug er sich drei Beulen am Kopf und blieb, ohne dem Dieb nachzueilen, ruhig sitzen, mit der Pflege seiner Beulen sich beschäftigend. Als er den Wächtern zurief: »Ein Diebstahl wurde verübt, schnell, eilet nach!« da geschah, weil sie vom Branntwein berauscht waren, nichts anderes, als dass sie auf der Lehmmauer, die sie ritten, hin und her voltigirten. Und so entkam er mit dem Talisman nach der eigenen Behausung.

Des andern Tags begab er sich zum Chân. Der Chân sass zornig da. Der Mann mit dem hellen Verstande sprach: »Der Chân zürne nicht in seinem Herzen; dem Chân werd' ich den Edelstein noch zurückgeben.«[59] Der Chân aber sprach: »Den Talisman stelle ich dir zur Verfugung. Deine übrigen Handlungen in dieser Nacht mögen so hingehen! Dass du mir aber eine Blase über den Kopf gezogen, das war gefehlt. Ich fürchtete mich, indem ich dachte, dass sie mir den Kopf ausgesogen. Führt diesen Menschen auf den Richtplatz und haut ihm den Kopf ab.« Der Mann dachte: »Dieser Chân, wie er auch handeln mag, handelt nicht gut.« Voll Zorn schlug er den Lebenstalisman auf einen Stein; da floss das Blut aus der Nase des Châns, worauf er starb.

Bei diesen Worten der Erzählung sprach der Chânssohn: »Was für ein drolliger Chân war das doch!« und Siddhi-k ýr versetzte: »Sein Glück verscherzend hat der Chân seinem Munde Worte entschlüpfen lassen,« und mit dem Ausruf: »In der Welt nicht zu bleiben ist gut!« wand er sich los.

Aus Siddhi-k ýr's Erzählungen das zwölfte Capitel: die Geschichte vom Chân mit dem Kinder-Verstand.

Quelle:
Jülg, B[ernhard]: Kalmükische Märchen. Leipzig: F.A. Brockhaus, 1866, S. 58-60.
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