9. Die Kinder mit dem Goldschopf.

[42] Es war einmal – nichts Größeres gibt es als Gott – es war einmal ein Mann, der hatte drei Töchter. Den dreien war ihre Mutter gestorben, und nun hatten sie eine böse Stiefmutter. Der waren ihre Stieftöchter Dornen im Auge, und als sie eines Tages ganz böse wurde, sagte sie zu ihrem Manne: »Wenn du deine drei Töchter fortjagst, bleib' ich bei dir, wenn nicht, dann sterbe ich.« Sehr weh tat ihm das; wie sollte er denn seine Kinder verjagen? Er dachte und dachte, bis er etwas ausgedacht hatte. »Kinder,« sagte er, »ich weiß einen Ort, dort gibt es einen Apfelbaum; den wollen wir schütteln, und ihr sammelt auf.« Sie gingen zu dem bezeichneten Orte und nahmen einen Teppich mit. Unter dem Apfelbaum war eine furchtbar tiefe Grube; über diese breitete der Vater den Teppich und schüttelte Blätter darauf. Er selbst kletterte auf den Baum und sagte zu seinen Töchtern: »Ich werde jetzt den Baum schütteln, und ihr hebt die Äpfel auf.« Die Mädchen wollten den Befehl ihres Vaters ausüben, traten aber dabei auf den Teppich und fielen wie Äpfel, eine nach der andern, in die Grube. Sie fingen an zu weinen; ihr Vater aber verließ sie und ging nach Hause. Als die Mädchen der Hunger zu quälen anfing, sagte die Älteste: »Kommt, Schwestern, eßt mich!« »Nein, mich sollt ihr essen!« sagte die Mittlere. Die Jüngste aber betete[42] zu Gott und bat ihn, er möge ihre eine Hand in eine Hacke und die andere in eine Schaufel verwandeln. Gott erhörte ihre Bitte, und gleich hatte sie statt ihrer beiden Hände Hacke und Schaufel. Damit begann sie zu graben und zu hauen und machte einen Weg aus der Grube. Dann machte sie sich auf den Weg und kam in ein Königreich, wo sie im Stalle des Königs sich versteckte. In diesem Stalle mästete man Pferde mit Mandeln und Rosinen. Sooft nun den Pferden ihr Futter gebracht wurde, ging die Jüngste hin, nahm Mandeln und Rosinen, aß und brachte auch ihren Schwestern davon.

Nun wurden die Pferde allmählich mager wegen der mangelnden Nahrung. Man machte dem König Meldung davon, und dieser schickte einen Pferdeknecht hin, er solle aufpassen, was da vor sich gehe. Der Pferdeknecht versteckte sich, und als das Mädchen kam und Mandeln und Rosinen in ihren Rock sammelte, stürzte er sich auf sie, packte sie und befahl ihr, ihm zum König zu folgen. »Ich will auch meine Schwestern holen,« sagte die Jüngste, »dann gehen wir zusammen zum König.« Der Pferdeknecht war's zufrieden und ließ sie gehen. Bald kam sie in Begleitung ihrer Schwestern zurück, und der Pferdeknecht führte sie alle drei zum Könige. Dieser frug zuerst die Älteste, was sie alles könne. »Ich kann dir einen solchen Teppich weben, auf den sich dein ganzes Reich setzen kann und noch mehr«, antwortete sie. Dann richtete er dieselbe Frage an die Mittlere. »Ich koche dir eine solche Speise in einer Eierschale, daß dein ganzes Königreich davon satt wird und noch mehr.« »Und du, was kannst du?« frug der König die Jüngste. »Ich gebäre dir einen Knaben und ein Mädchen mit goldenen Schöpfen.« Da heiratete der König die Jüngste und machte aus den beiden andern hohe Würdenträger.

Es verging einige Zeit, und wirklich gebar die Jüngste einen Knaben und ein Mädchen mit goldenen Schöpfen. Ihre Schwestern wurden neidisch auf sie und stifteten die[43] Hebamme an, die beiden Kinder gegen junge Hunde auszutauschen. Den Knaben aber und das Mädchen warfen sie in den Mühlbach, und dem Könige meldeten sie, seine Frau habe junge Hunde auf die Welt gebracht. Der König wurde furchtbar zornig und befahl seinen Dienern, die Mutter an das Tor zu fesseln. Wer vorbeigehe, solle ihr ins Gesicht spucken und ihr Ruß auf die Brust streuen. Das geschah; sie wurde ans Palasttor gebunden, und wer vorbeiging, spuckte sie an und streute ihr Ruß in den Busen.

Der Müller aber hatte keine Kinder. Er hörte es weinen hinter der Mühle, ging hinaus und fand zwei Kinderchen – einen Knaben und ein Mädchen. »Die nehm' ich nach Hause, adoptiere und erziehe sie«, sagte er, zog die Kleinen aus dem Wasser und trug sie ins Haus. Wenn andere Kinder mit den Jahren wachsen, so wuchsen diese mit den Tagen. Der Müller baute ihnen ein eigenes Häuschen. Als nun der König eines Tages ein Fest veranstaltete, zu dem er alle Frauen und Mädchen seines Landes einlud, da kamen auch des Müllers beide Kinder. Und als sie sahen, daß jeder, der an ihrer Mutter vorbeiging, sie anspuckte und ihr Ruß in den Busen streute, gingen die goldschopfigen Kinder hin, hielten ihrer Mutter Rosen ins Gesicht, reinigten ihr die Brust und küßten sie. Dann traten sie ein in des Königs Gemächer, setzten sich an den Tisch und erzählten, die an das Tor gebundene Frau sei ihre Mutter und der König ihr Vater. Aber das wollte der König durchaus nicht glauben. Nun stand auf dem Tische ein gebratener Fasan, daneben lag eine trockene Rebe. Der Knabe nahm diese in die Hand und sagte: »Wenn die Frau, die an das Tor gebunden ist, meine Mutter und der König mein Vater ist, so soll diese Rebe wieder saftig werden, Wurzeln treiben und Trauben ansetzen.« Dann nahm er den Fasan und sagte: »Wenn jene Frau meine Mutter ist und der König mein Vater, so soll dieser Fasan wieder lebendig werden, sich auf die Rebe setzen und seine Flügel ausbreiten.« So geschah es, die Rebe wurde[44] wieder grün und setzte schöne Trauben an; der Fasan wurde wieder lebendig, flog auf die Rebe und breitete seine Schwingen. Der König aber umarmte und küßte seine Kinder. Dann band man ihre Mutter los, wusch ihr das Gesicht, kleidete sie in königliche Gewänder und erwies ihr königliche Ehren. Die beiden bösen Schwestern aber band man den Rossen an die Schweife und zerriß sie in Stücke.


Leid dort, Freude hier;

Kleie dort, Mehl hier.

Meinen Sattel ließ ich in Mzcheth,

Der schönen Stadt an der Aragwa.

Allen verleih euch Gott den Sieg,

Die ihr hier sitzt.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 42-45.
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