18. Der rote Fisch

[93] Ein Märchen ist dies: Es war einmal ein König, der war vom Alter blind geworden. Die Ärzte sagten ihm, im Weißen Meere sei ein bunter Fisch, der habe ein Horn auf dem Kopfe und er heiße »Der Rote Fisch«. Wenn man ihn fangen und mit seinem Blute des Königs Augen bestreichen könnte, käme das Augenlicht wieder. Der König schickte seinen Sohn mit den Fischern aus, um den Fisch zu fangen. Der Königssohn holte sich die Fischer zusammen und ging auf den Fang aus.

Zwei Tage lang warfen sie ihre Netze vergebens aus, erst am dritten Tage fingen sie den Roten Fisch. Aber so schön war er, daß es ihnen leid tat, ihn zu töten, und sie warfen ihn ins Meer zurück. Den Fischern aber nahm der Königssohn einen Eid ab, sie dürften von dem Fang nichts sagen. Dann kehrten sie nach Hause zurück.

Da geschah es eines Tages, daß der Königssohn einen Neger, den Diener seines Vaters, prügelte. Der Neger aber lief zu seinem Herrn und erzählte ihm die Geschichte vom Roten Fisch. Da wurde der König furchtbar zornig und verwies seinen Sohn des Landes. Als dieser von seiner Mutter Abschied nahm, sagte sie zu ihm: »Wenn dir auf dem Wege ein Mann nachgeht, so bleib stehen und tu, als ob du pissen wolltest; kommt er doch auf dich zu, so nimm ihn zum Gefährten; wenn er dir beim Essen mehr[93] gibt, als er sich nimmt, so werdet Freunde; wenn er nachts, wenn du schlafen gehst, die Wache auf sich nimmt, so tu zuerst, als ob du schliefest, bleibt er wach, so bleib sein Freund!«

Der Königssohn nahm Abschied von seiner Mutter und ging in die Fremde. Unterwegs sah er einen Unbekannten auf sich zukommen; er tat, wie seine Mutter ihn geheißen, und der Fremde blieb in einiger Entfernung stehen. Nachts blieben sie im freien Feld; der Königssohn tat, als ob er schliefe, der Fremde aber wachte die ganze Nacht. Am Morgen, als sie ihren Imbiß zu sich nahmen, legte der Fremde dem Königssohn mehr als sich selber vor, so daß dieser sich sagte, aus dem Fremden wird mir ein guter Freund.

Bald kamen sie in eine Stadt, wo sie bei einer alten Frau einkehrten. »Was gibt's denn Neues in eurer Stadt«, frugen sie die Alte.

»Was es Neues gibt? Unser König hat eine Tochter, die sprach bis zum siebenten Lebensjahr; von da anhörte sie auf zu sprechen. Der König hat gelobt, sie dem zur Frau zu geben, der sie wieder zum Sprechen bringt; wer's aber versucht und es gelingt ihm nicht, dem wird der Hals abgeschnitten. Viele haben's schon probiert und aus ihren Schädeln hat man ein Haus errichtet.« Als der Königssohn und sein Gefährte dies gehört hatten, beschlossen sie, das Wagnis zu versuchen.

Viele Menschen versammelten sich da am Königshofe, um Zeugen des Versuches zu sein. Der Freund des Königssohnes bat sie, dreimal auf seine Fragen nicht zu antworten. Dann gingen sie alle, die sich da versammelt hatten, in das Zimmer, in dem die Königstochter hinter einem Vorhang saß. Dann fing der Freund des Königssohnes an zu erzählen.

»Ein Schneider ging einmal seines Weges. Zu ihm gesellte sich ein Zimmermann und später noch ein Mullah. Sie übernachteten in einem dunklen Wald. Der Zimmermann[94] hatte die erste Wache. Als ihn der Schlaf ankam, nahm er ein Stück Holz und schnitzte einen Jungen daraus. Die zweite Wache hatte der Schneider; als es ihn zu schläfern anfing, nähte er Kleider für den hölzernen Jungen und zog sie ihm an. Die dritte Wache hatte der Mullah. Als er nun den hölzernen Jungen erblickte und sah, daß er Kleider anhatte, da flehte er zu Gott, daß er dem Jungen eine Seele geben möge. Der Allmächtige erhörte sein Gebet und aus dem hölzernen wurde ein lebendiger Knabe. Am Morgen aber fingen die drei zu streiten an; jeder wollte den Jungen für sich haben. ›Mir gehört er!‹ sagte der Zimmermann. ›Nein mir!‹ rief der Schneider. ›Was fällt euch ein, mein ist er! der Mullah. Was meint nun ihr, liebe Leute, die ihr hier versammelt seid, sagt, wem soll der Junge gehören?‹«

Aber niemand antwortete, auch als der Erzähler seine Frage wiederholte, blieb alles stumm. Nur die Königstochter hielt es nicht länger aus. »Warum antwortet ihr denn nicht?« rief sie hinter dem Vorhang hervor, »der Junge gehört doch dem Mullah!« Gleich stand alles ganz erfreut auf. »Gut, schön, sie hat gesprochen!« riefen sie alle durcheinander. Der König aber gab dem Königssohn seine Tochter zur Frau.

Abends, als der Neuvermählte sich zu seiner Braut begeben wollte, sagte ihm sein Gefährte, er solle das Brautgemach nicht verschließen. Und als die beiden jungen Eheleute schliefen, trat der Freund ins Zimmer und sah, wie zum Fenster eine ungeheure Schlange hereinkroch. Die zerhieb er mit seinem diamantenen Säbel und als der Tag gekommen war, konnten alle sehen, was da nachts sich ereignet hatte.

Zehn Tage später entließ der König seinen Schwiegersohn nach Hause und gab ihm zehn Diener; seiner Tochter aber zehn Sklavinnen, sowie zehn Kamele mit zehn Lasten kostbarer Sachen.

Als sie wieder an den Ort kamen, wo der Unbekannte[95] sich zum Königssohn gesellt hatte, sagte jener zu diesem: »Nun wollen wir alle diese Sachen teilen.« Der Königssohn war's zufrieden und sie teilten alles, die Kostbarkeiten, die Diener, die Sklavinnen. Blieb nur die Königstochter übrig. »Die müssen wir in zwei Hälften spalten«, sagte der Freund. »Nein, töte sie nicht, nimm sie lieber ganz!« bat der Königssohn. Aber umsonst; der andere wollte davon nichts hören. Sie banden also die Königstochter an einen Baum, der Freund zog sein diamantenes Schwert und tat, als wolle er ihr den Kopf spalten; die Königstochter aber erbrach sich vor Angst und ... es waren kleine Schlangen, die aus ihrem Munde kamen. Ein zweites und ein drittes Mal schwang der Freund sein Schwert, dann aber dankte er Gott und band die Königstochter los.

»Eine Schlange hat sich verliebt in sie,« sagte er dann zum Königssohn, »und hat jede Nacht bei ihr geschlafen. Von der Schlange Atem ist die Königstochter schwanger und stumm geworden. Jetzt muß ich dich verlassen. Meinen Anteil schenke ich dir. Dein Vater ist blind; nimm ein wenig Erde vom Hufe meines Pferdes und bestreiche damit die Augen deines Vaters, dann kehrt das Licht in sie zurück. Du wirst mich nicht mehr sehen; ich bin jener Fisch, den du nicht toten lassen wolltest.« Kaum hatte er's gesagt, da war er auch schon verschwunden.

Der Königssohn aber kehrte mit allem, was er hatte, mit Dienern, Sklavinnen, Kamelen, Kostbarkeiten und seiner jungen Frau nach Hause zurück. Mit ein wenig Erde vom Hufe des Pferdes seines Gefährten beschmierte er die Augen seines Vaters, der auch gleich wieder sehend wurde.

Und ... das Märchen ist zu Ende.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 93-96.
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