29. Der hilfreiche Widder

[141] Es war einmal ein Mann, der hatte eine zweite Frau genommen. Der Mann hatte eine Tochter, und die Frau auch eine. Die Frau aber liebte ihre eigene Tochter mehr als die ihres Mannes.

Jeden Tag gingen die beiden Mädchen mit ihren Schafen auf die Weide. Die Mutter gab ihrer Tochter ein Säckchen mit guten Sachen mit, der Tochter ihres Mannes aber nur altbackenes Brot. Und darum sang die eine den ganzen Tag, während die andere den ganzen Tag weinte. Da kam eines Tages ein Widder zu der Tochter des Mannes und sagte: »Sei so gut, Mädchen, sag' mir doch, warum du den ganzen Tag weinst.«

»Wie soll ich nicht weinen, komm mal, ich zeig' dir, was ich zu essen habe.« Und führte ihn zu dem Baume, in dessen Höhlung sie ihr Brot versteckt hielt.

»Siehst du, das ist mein ganzes Essen, aber ihrer Tochter gibt sie immer einen ganzen Sack voll guter Sachen mit.« Dem Widder tat das arme Mädchen herzlich leid. »Sieh' mal,« sagte er zu ihr, »zieh' mal mein rechtes Horn heraus,[141] schüttle es und iß, was du willst. Was übrig bleibt, tu' wieder ins Horn und stecke dies wieder an seinen Platz!«

Das Mädchen zog ihm das rechte Horn heraus, schüttelte es und sieh', es füllte sich vor ihr mit allerhand guten Speisen und Getränken. Sie aß nach Herzenslust, tat die Reste ins Horn und steckte es dem Widder wieder auf.

»Wenn du Lust hast zu essen, weine nur und ich komme gleich«, sagte der Widder zu ihr und ging zu der Herde zurück. So konnte das Mädchen sich jeden Tag satt essen und wurde so fröhlich, daß sie den ganzen Tag bis zum Abend sang.

Eines Abends aber frug die Mutter ihre eigene Tochter: »Was treibt denn deine Freundin den ganzen Tag?« »Singen tut sie«, antwortete diese. Das war der Frau aber sehr zuwider und sie lernte ihre Tochter an, daß sie das Mädchen von einem Felsen hinunterstoßen solle.

Aber die hatte das gehört und erzählte es ihrem Widder. Der fand ein Mittel.

»Locke sie morgen an den Rand des Felsens dort,« sagte er, »das andere laß mich machen.« Und als die beiden Mädchen am folgenden Tage ihre Schafe auf die Weide getrieben hatten, lockte das Mädchen ihre Genossin an die Stelle, die ihr der Widder angegeben hatte.

Der aber stieß die Tochter der Frau hinab, daß sie zerschellte.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 141-142.
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