34. Für andere gescheit

[157] Es war einmal eine Taube, die jedes Jahr Junge ausbrütete. Und jedes Jahr kam ein Fuchs zu dem Baume, auf dem sie nistete, und forderte eines der Jungen. »Und wenn du mir keines gibst,« drohte er, »dann klettere ich hinauf und fresse dich auch noch.«

Traurig saß die Taube eines Tages neben ihrem Nest. Sie hatte eben wieder Junge ausgebrütet und wußte, der Fuchs würde bald kommen. Da flog der Vogel Malik Ulhazin auf den Baum, wo die Taube saß und fragte sie, warum sie so traurig sei. Die Taube erzählte ihm alles.

»Wie dumm du bist,« meinte Malik Ulhazin, »wenn er wiederkommt, fürchte dich nicht und sag' ihm, er solle nur zu dir herauf klettern, wenn er könne.« Tags darauf kam der Fuchs.

»Ein Junges wirf herunter oder ich komm hinauf und freß dich mitsamt deiner Brut!«

»Komm nur herauf und hol' dir's selber!« entgegnete die Taube.

»Sieh mal! Wer hat dich denn das gelehrt?« forschte der Fuchs.

»Malik Ulhazin«, gestand die Taube. Der Fuchs sagte kein Wörtchen, machte Kehrt und verschwand. Schnurstracks lief er zu Malik Ulhazin, den er an einem Flusse fand, begrüßte ihn und sagte:

»Ihr seid Gott teure Geschöpfe. Ihr könnt in einer Stunde einen Weg zurücklegen, zu dem wir einen ganzen[157] Monat brauchen. Aber sag einmal: Wenn der Wind von rechts weht, nach welcher Seite tut ihr dann den Kopf?«

»Nach der linken!« antwortete Malik Ulhazin.

»Und wenn der Wind von links weht?« frug der Fuchs weiter.

»Dann nach der rechten!«

»Wenn er aber von beiden Seiten zugleich weht?«

»Ja, dann stecken wir den Kopf unter den Flügel!«

»Gottes Wunder,« rief der Fuchs, »das möchte ich einmal sehen! Bitte, zeig' es mir!«

Malik Ulhazin erfüllte sofort seine Bitte. Kaum aber hatte er den Kopf unter den Flügel gesteckt, als ihn der Fuchs auch schon im Rachen hatte.

»Siehst du,« sagte der Fuchs, »es wäre gescheiter gewesen, du hättest deine guten Ratschläge auf dich selber angewendet.«

Sprach's und ließ sich den Vogel schmecken.35

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In einer georgischen Variante rächt sich der Vogel an dem Fuchs, der ihm jedesmal alle seine Jungen wegfrißt, indem er sich an einen Jäger wendet, der den Fuchs totschießt. Die Episode Malik Ulhazin fehlt hier ganz. In einer hürkanischen Variante ist es der Wolf, der die Jungen des Vogels Kuklachai frißt. Der Fuchs hilft letzterem sich zu rächen, frißt aber später die jungen Kuklachais selbst.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 157-158.
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