39. Der Fuchs, der Wolf und der Maulesel

[162] In Daghestan war einmal eine große Hungersnot. Da war auch ein Fuchs, der hatte gar nichts zu essen. »Was soll ich hier?« dachte er, »es ist besser, ich gehe nach Schirwan.«

Auf dem Wege dahin traf er einen Wolf. »Wohin geht die Reise?« frug der Wolf.

»Nach Schirwan«, antwortete der Fuchs.

»Warum gerade nach Schirwan?« meinte der Wolf.

»O, dort gibt es eine Menge Schafe und keinen Hirten dabei; da kann man essen und sich einen guten Tag machen; niemand stört einen dort,« sagte der Fuchs.

»Na, da geh' ich auch mit dir«, meinte der Wolf.

Ein Stück Weges weiter trafen sie einen Maulesel, der sie frug, wohin sie gingen.

»Wir? Nach Schirwan.«

»Was ist denn in Schirwan los?« erkundigte sich der Maulesel.

»Was dort los ist? Mein Lieber, dort wächst das Gras so hoch, daß du dich gar nicht zu bücken brauchst.«

»Na, wenn's so ist, dann geh' ich mit,« sagte der Maulesel und schloß sich den beiden an.

Als die drei aber an die Grenze Daghestans gekommen waren, stiegen sie auf einen Hügel. Der Fuchs hielt Umschau und sagte dann: »Nach Schirwan sind es immer noch zehn Tagereisen. Zu essen haben wir nichts. Was tun? Es bleibt uns nichts übrig, als den Jüngsten von uns aufzuessen. Jeder von euch soll jetzt gleich sagen, wie alt er ist.«

»Ich,« sagte der Wolf, »ich bin zur Zeit des Propheten Noe geboren.«

»Du lügst,« antwortete der Fuchs, »aber das nützt dir nichts. Was mich anbetrifft, so hatte ich schon einen weißen Bart, als Gott die Menschen erschuf.«[163]

»Ich aber, ich weiß gar nicht, wie alt ich bin,« sagte der Maulesel. »Aber ihr könnt's leicht erfahren, seht nur auf meinem rechten Hinterhuf nach, da hat mir mein Herr mein Geburtsjahr hinaufgeschrieben.«

»Ich bin ein wenig kurzsichtig,« log der Fuchs, »schau du nach, Wolf, du hast bessere Augen!«

Der Wolf näherte auch gleich seinen Kopf dem einen Hinterfuß des Maulesels, erhielt aber einen so fürchterlichen Tritt, daß er gleich das Bewußtsein verlor. »Hab' ich dir nicht gesagt, daß das Lügen nichts nützt?« sagte der Fuchs zum Wolf. Dann aber machte er mit dem Maulesel aus, daß sie beide an diesem Orte, wo sie waren, bleiben wollten; für sich aber nahm er den Leichnam des toten Wolfes und fraß ihn auf.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 162-164.
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