53. Urýsmäg und Sósryqo

[188] Die Narten hielten eine Versammlung ab. Urýsmäg und Sósryqo stritten darüber, wer von ihnen der tapferste und wessen Frau die beste wäre. Als Sósryqo am folgenden Tage aufwachte, kam ihm die Reue: »Nein, Gott soll mich verfluchen, wie mit einer Reitpeitsche habe ich gestern meinen Älteren behandelt, so schwer hab' ich ihn beleidigt. Wie soll ich mich noch bei den Narten sehen lassen. Ich will den Tod suchen, sonst schäm' ich mich zu sehr.« Dann stand er auf, holte sein Pferd, tat seine Rüstung an und stieg auf: »Den Tod such ich!« sagte er nochmals und ritt weg.

Satána war ein gutes Weib. Als sie an jenem Morgen die Straße fegte, begegnete ihr Sósryqo. »Wohin des Wegs, Held?« frug sie ihn. »Den Tod suchen«, war die Antwort. »Ach,« klagte Satána, »wenn der fort ist, ist die Hälfte unseres Auls weg. Möge mein Haus einfallen!« Sie sattelte Durdura, Urýsmägs Pferd, und ritt zu ihrem[188] Schwager, der in der Stadt Týnty lebte. »Vielleicht gelingt es dem, Sósryqo von seinem Vorhaben abzubringen,« dachte sie.

Ihr Schwager tat auch gleich sein Totengewand57 an, sattelte sein Schlachtpferd und ritt Sósryqo nach. Auf dem Färdyg-Feld holte er ihn ein. »Sósryqo, kehr zurück, und wenn nicht, will ich mit dir umkommen.« »Esel, Färsagläg58, antwortete dieser, wie wagst du es, mir nachzugehen?« Doch ritten sie zusammen und kamen, ohne ein Wort zu wechseln, nach Jelusäned59. Dort angekommen, stürzte Sósryqo nach dem Flusse, aber sein Schwager Tschilächsärton war schneller als er und kam früher ins Wasser. »Gott soll dich nicht erhören,« sagte Sósryqo, »was willst du dich denn mir opfern?« »Du sollst nicht ohne Preis zurückkehren, Sósryqo,« sagte dieser, »komm nach Hause, wir haben eine Schwester, um die selbst die Engel freien, die geben wir dir!«

Sie kehrten also zurück, kamen zum Hause Tschilächsärtons und dieser sagte zu seiner Schwester: »Ich habe dir einen guten Mann gefunden.« »Wer ist er?« frug sie. »Aus dem Nartengeschlecht ist er, der Sósryqo ist's.« Da fing das Mädchen an zu weinen und sagte, »sie wolle nicht bei einem Narten schlafen.« Sósryqo war voller Zorn, als er dies erfuhr; er ging nach Hause, blieb mitten im Nartenaul stehen und rief: »Narten! Mir ist die Seele krank! Die Tochter der Tschilächsärton will mich nicht!« Da schickten sie einen Ausrufer aus mit dem Auftrag, die Narten zum Zug aufzufordern, keiner dürfe zurückbleiben. Wo drei in einem Hause seien, bleibe einer zurück, wo nur zwei, sollen beide kommen. Am nächsten Morgen versammelte sich die Schar.[189]

In jener Nacht gebar eine Hexe ein Knäblein, und als am Morgen Urýsmäg die Runde bei allen seinen Heerscharen machte, kam der Kleine bereits angelaufen und wollte mitmachen. Urýsmäg sagte zu ihm: »Gestern abend bist du geboren und heute willst du schon mit ins Feld ziehen?« »So viel Hilfe dir hundert Mann leisten können, so viel leiste ich dir«, antwortete das Kind. »Wer hält mir mein Pferd?« frug Urýsmäg. »Ich«, rief der Kleine. »Du?« sagte Urýsmäg, »aber mein Pferd ist nicht leicht zu halten.« »Ich halte es doch«, sagte der Kleine. »Ja, wie denn?« frug Urýsmäg wieder, »wenn es den Zügel abreißt, wie willst du's dann halten?« »Am Schopf!« »Und wenn es sich auch da losreißt?« »Dann an der Mähne!« »Und wenn es sich trotzdem losreißt?« »Dann halte ich es an den Füßen und werfe es zu Boden.«

Als dann die Schlacht anfing, schlug das Knäblein Urýsmäg vor, es selbst wolle entweder den Feind vom Berge aus angreifen oder im Heere mitkämpfen. »Wenn du mir einen solchen Dienst erweisen willst, so ist's recht; über dem Feinde ist ein Berg, wenn du ihn von da aus angreifen willst, so soll mir's recht sein.« Der Junge verwandelte sich in eine schwarze Henne, flog auf die Bergspitze und löste mit einem Schlage seines Fußes ein großes Felsstück ab, das hinunterfiel, die Hälfte der Häuser im Aul der Feinde zerstörte und viele Leute erschlug. Tschilächsärton aber hatte von Gott drei Pfeile bekommen; als er nun den Knaben oben auf dem Berge erblickte, sagte er: »Sonderbar! Droben sitzt etwas wie ein schwarzer Rabe; das hat meine Stadt zerstört und meine Leute umgebracht. O Gott! Da du mir diese Pfeile geschenkt hast, so laß mich auch das treffen, was da oben sitzt und einem Raben gleicht!« Er schoß und traf den Knaben ins Knie. In alten Zeiten war es nun so, daß, wenn jemand über drei Täler weggetragen wird, er unsterblich wurde. Darum lud sich Urýsmäg den Knaben auf den Rücken und trug ihn über zwei Täler hinweg. Aber Sýrdon war immer der böse Ratgeber der[190] Harten, darum spottete er auch Urýsmäg aus: »Aha, dein Heer haben sie dir aufs Haupt geschlagen und jetzt trägst du den Hexensohn auf dem Rücken!« Als Urýsmäg dies hörte, warf er den Knaben von sich, der gleich sterben mußte. Batrás, der Sohn des Chämyts, schaute vom Himmel herunter und sagte: »Die Narten schlagen sich zwar gut, aber gegen Tschilächsärton können sie nichts ausrichten.« Dann flog er vom Himmel herab und zu den Narten. »Der Rauch aus euren Gewehren ist gut, aber der Stadt eurer Feinde habt ihr noch keinen Schaden getan. Geht, holt meine Kanone, dann sollt ihr sehen!« sagte er zu ihnen. Sie gingen, aber weder mit Menschenkraft, noch mit der Kraft der Ochsen konnten sie die Kanonen von der Stelle bringen. »Und ihr wollt Krieg führen!?« sagte Batrás, ging selbst, nahm seine Kanone auf den Rücken und brachte sie aufs Schlachtfeld. Dann lud er sich selbst in die Kanone und ließ sie abfeuern. Als er in der Feindesstadt landete, kam Tschilächsärtons Tochter zu ihm und bat ihn, Gnade zu üben und sie nicht zu schänden, sie willige ein, seinen Bruder zu heiraten. »Ob du willst oder nicht,« sagte Batrás, »du wirst ihn heiraten. Ich werde dir nichts antun, aber die Hälfte dessen, was in der Stadt ist, nehme ich mit.« Und die Narten nahmen ihnen Leute und Geld ab und führten auch Sósryqo, in dessen Hause sie dann vom Kampfe ausruhten, seine Braut zu.

57

Man fertigt sich sein Totengewand in Ossetien rechtzeitig an. Manche legen es auch bei Beginn einer gefährlichen Unternehmung schon an.

58

Sohn eines Adligen (äldar) und einer aus niedrigerer Klasse stammenden Frau.

59

Der Erzähler sagte Miller, Jelusäned sei der Ort, aus dem die Menschen kamen, als Gott sie erschuf. Es ist aber sicher eine Verballhornung des Namens Jerusalem.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 188-191.
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