64. Ossetisch

[246] Amiran war ein Bedrücker, was Gott nicht gefiel. Er fing ihn deshalb durch List und befahl ihn in einer Höhle einzuschließen. Ein Jäger verlor nun einmal seinen Weg und Gott führte ihn gerade zur Türe der Höhle, in der Amiran eingeschlossen war. Diese Türe war aus Kupfer; Gott öffnete sie, der Jäger trat hinein, sah sich um und als er Amiran erblickte, sah ihn dieser an und seine Augen waren so groß wie ein Ochsenhalsband. Der Jäger fiel in Ohnmacht, aber Amiran sprach ihm Mut zu: »Fürchte dich nicht, meine Sonne! Ich bin Amiran und auf Gottes Befehl hier angefesselt.« Als der Jäger Mut gefaßt hatte, frug er: »Aus welchem Geschlecht bist du? Was bist du für ein sonderbares Wesen und was tust du hier?« »Ich bin Amiran, aus dem Geschlecht der Daredsan, ich war ein Bedrücker der Menschen und ließ ihnen keine Ruhe, ich stritt mit Gottes Heiligen und verachtete den Höchsten selbst. Da ließ er mich seine Macht fühlen, jagte mich hierher und da steh' ich jetzt gefesselt. Gib mir meinen Säbelriemen und ich werde dich reichlich belohnen.« Der Jäger versuchte es, zog und zog an dem Riemen, aber was konnte er ausrichten? »Sei gnädig,« flehte er, »ich kann nicht. Es geht über meine Kraft.« »Nun, dann binde deinen einen Vorderarm an meinen Schwertgürtel und reiche mir den andern!« sagte Amiran. Der Jäger tat, wie ihm geheißen wurde. Amiran zog so fest, daß dem armen Menschen die Glieder krachten. »Sei gnädig, reiße mir die Seele nicht aus!« flehte der Jäger. Amiran ließ ihn los und befahl ihm, nach Hause zu gehen und die Herdkette71 zu holen, aber ohne ein Wort dabei zu sprechen und ohne sich umzusehen[247] sehen, sonst würde die Türe sich schließen. Der Jäger stürzte nach Hause, riß die Kette ab und trug sie weg, ohne ein Wort zu sprechen, hinter ihm seine Hausgenossen, ja das ganze Dorf. »Ist er verrückt, wohin will er mit der Kette?« Der Jäger aber lief, was er konnte. Schon trennte ihn nur mehr ein kleines Stück Wegs von der Höhle, als Gott es gefiel, ihm den Wunsch, sich umzusehen, einzuflößen. Die Türe flog zu und Amiran blieb in der Höhle.

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Zum Verständnis des Folgenden sei erwähnt, daß die Kette, die über dem Herde hängt, heilig ist. Die Kette darf auf keinen Fall entfernt werden, es käme das dem Tode der sämtlichen Hausinsassen gleich. Diebstahl oder Raub der Kette zieht Blutrache nach sich.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 246-248.
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