XXII.

[75] Es war einmal ein Prinz, der hatte eine Schwester und eine Frau. Einst sagte seine Frau zu ihm: »Deine Schwester ist nicht von unbescholtenem Wandel«. »Wie so?« fragte er. »Sie hat ihre Augen auf Verbotenes gerichtet«; antwortete sie. Er setzte daher seine Schwester in eine Kammer und riegelte die Thüre hinter ihr zu; ein Fensterloch liess er offen, und durch dieses brachte man ihr Brot und Wasser, zu essen und zu trinken. Einmal tat ihr die Frau ihres Bruders eine Schlange in den Wasserkrug; das Mädchen trank die Schlange hinunter und in Folge dessen schwoll[75] ihr Bauch auf. Da behauptete ihre Schwägerin gegenüber ihrem Manne, seine Schwester sei schwanger geworden; der Bruder ging sie besehen und fand, dass sie in der Tat sehr stark geworden war; er sprach zu sich selber: »Ich will sie nicht umbringen, sondern aufs Gebirge führen«. Er rief ihr: »Schwester!« »Was gibt's? Bruder«. »Komm, wir wollen in's Gebirge auf die Jagd gehen«. »Wie du willst, Bruder«, entgegnete sie. Sie stiegen ein jedes auf ein Pferd und ritten in's Gebirge; das Wetter war heiss, und sie klagte ihrem Bruder über Durst. »Bah, Schwester, da ist kein Wasser«, sagte er. Da kam eine Hummel. »Geh«, fuhr er fort, »dieser Hummel nach, sie wird sich beim Wasser niederlassen, dann trinke und komm zurück; ich bleibe hier und warte auf dich«. Sie ritt hinter der Hummel drein, einen Tag, zwei Tage; da liess sich die Hummel am Wasser nieder; und auch das Mädchen stieg ab und trank Wasser; dann kehrte sie um und kam an jenen Platz zurück; aber ihren Bruder fand sie nicht mehr; da legte sie sich nieder, band die Stute an ihren Fuss und schlief ein. – Ein Fürst aber war auf die Jagd geritten und fand nun das Mädchen da liegen; er redete sie an, aber sie sprach nicht; und wie er es auch anstellte, sie antwortete ihm nichts. Er nahm sie mit nach Hause; als sie zwei Tage lang fortfuhr, nicht zu sprechen, rief er die Aerzte und sagte: »Seht zu, was für eine Krankheit diese Frau hat«. Sie antworteten: »Sie hat eine Schlange im Bauch«. »Was ist da zu tun?« fragte er. »Lass einen Kessel voll Milch am Feuer heiss machen und lege über die Oeffnung desselben ein Sieb; dann hänge das Mädchen darüber auf, die Füsse nach oben und den Kopf nach unten; dadurch wird die Schlange aus ihrem Munde auf das Sieb hinabfallen, und hernach wird sie reden können«. Das tat man. Die Schlange kam aus ihrem Munde hervor, und der Fürst fragte: »Warum redest du nicht?« »Was soll ich reden?« antwortete sie. »Woher bist du?« »Frage nicht, sieh, ich bin hier«, entgegnete sie. – Einmal ging sie vor dem Schlosse Wasser holen; da kam ein Riese und fand sie am Brunnen, packte sie und trug sie fort; er brachte sie zu einem Schlosse und setzte sie in dasselbe; drei Unholde befanden sich drinnen. Er führte sie in das Innere desselben, und als sie ihm nicht zu Willen sein wollte, warf er sie in ein unterirdisches Gefängniss.

Unterdessen hatte ihr Bruder seine Frau getödtet und stellte Nachforschungen nach seiner Schwester an, bis man ihm sagte, sie sei beim Fürsten. Er kam zu demselben und redete ihn an: »Fürst!« »Was gibt's?« »Wo ist meine Schwester?« »Wer ist[76] deine Schwester?« fragte der Fürst. »Jene, die du auf dem Gebirge getroffen hast«, antwortete er. »Freund«, sagte der Fürst, »jenem Mädchen ist eine Schlange zum Bauche herausgekommen, und sie ist wieder hergestellt worden; darauf ist sie an den Brunnen gegangen, um Wasser zu holen; da ist ein Riese gekommen, hat sie geraubt und nach dem Schlosse von Bän 'Amûd gebracht«. Als er das vernommen hatte, trat er den Weg nach dem Schlosse an und reiste einen ganzen Monat weit. Er gelangte zu dem Schlosse und trat hinein. Dort fand er seine Schwester im Gefängnisse nebst einem andern Mädchen, der Tochter des Elfenkönigs; schöneres als diese gibt's nicht. Er holte sie aus dem Gefängnisse heraus und nahm sie mit nach Hause. Als der Riese und die Unholde erwachten, beschuldigten sie sich wechselseitig, die Mädchen weggenommen zu haben; in Folge davon gerieten die vier in Streit und tödteten sich untereinander. Jener aber führte seine Schwester und die Tochter des Elfenkönigs nach Hause und vermälte sich mit der letzteren, wärend er seine Schwester bei sich wohnen liess. Er bekam einen Sohn, aber derselbe verschwand; dann wurde ihm eine Tochter geboren, und diese blieb ihm; so oft er Söhne bekam, verschwanden sie, und so oft er Töchter bekam, blieben sie ihm. Da sagte er: »Frau, was ist das?« Sie fragte: »Was?« »Dass, wenn du Söhne gebierst, sie verschwinden, und wenn du Töchter gebierst, sie bleiben«. Die Tochter des Elfenkönigs sagte: »Du weisst es, ich bin die Tochter des Elfenkönigs, meine Verwandten rauben sie«. Er entgegnete: »Kannst du sie nicht hindern, dies zu tun?« Da sagte sie: »Gib mir die Herrschaft im Hause in allen Dingen«. »Die sollst du haben«, sagte er; darauf holte sie ihm ihre Kinder, und nun ist's aus.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 75-77.
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