XXXII.

[115] Es war einmal ein Fürst, der hatte zwei Söhne. Der eine derselben machte sich auf, mit einem Buche, welches er besass, in's Kloster zu gehen. Er reiste, bis die Nacht anbrach, dann blieb er im Gebirge und schlief bis gegen Mitternacht. Da hörte er Jemand schreien. Er dachte: »ich will gehen und zusehen, was dies wol ist«. Er ging und fand eine Höle, in welcher ein Feuer loderte. Er trat ein und sah Jemand beim Feuer schlafen, einen blinden Riesen. Der Junge setzte sich hin und pickte den Riesen mit einer Nadel. Der erhob sich und suchte nach ihm, konnte ihn aber nicht finden. Nach einer Weile stach er den Riesen zum andernmal. Der Riese stand auf. Nach und nach wurde es Tag, und die Ziegen fingen an, aus der Höle hinaus zu gehen. Der Riese stellte sich mit gespreizten Beinen in die Oeffnung der Höle und liess Ziege um Ziege hinauspassiren. Der Junge legte sich unter den Bauch des Bockes und kam auf diese Weise hinaus. Die Ziegen gingen zur Weide in's Gebirge, und der Junge ging mit ihnen bis gegen Abend. Der Riese hatte inzwischen in der Höle herumgesucht, aber Niemand gefunden. Als aber am Abend der Junge die Ziegen nach Hause führte und mit ihnen in die Höle eintrat, schrie der Riese: »Ooof! Geruch von Menschenfleisch[115] dringt zu mir!« Da sagte der Junge: »Ich bin's«. »Du? werbist du?« »Dein Sohn bin ich; die Ziegen weide ich«. »Junge! bist du mein Sohn?« »Ja«. »Nun, so will ich oben auf die Höle gehen und Wasser auf dich lassen: bist du mein Sohn, so hältst du ruhig mein Wasser aus, bis ich komme und dich ablecke«. Nun legte der Junge einen Stein vor das Oberfenster der Höle und bestrich seinen Körper mit Wasser und Salz. Der Riese liess darauf von dem Fenster aus Wasser auf den Stein; brunnentief ging der Stral in die Erde. Dann kam der Riese herab und leckte den Jungen ab. »Nun bist du mein Sohn«, sagte er, »geh und weide meine Ziegen«. Als er nun die Ziegen weidete, traf er eine Bärin, welche von der andern Seite herankam. »Komm«, rief sie »und lause mich«. »So steig auf diesen Baum«, antwortete er. Als die Bärin auf den Baum gestiegen war, band er ihre Zotten an einen Ast desselben und dann stiess er sie hinab, so dass sie an dem Aste hangen blieb. »Komm und mache mich los«, rief sie. »Nein, ich mache dich nicht los«. »Wesshalb nicht?« »Wo sind die Augen meines Vaters?« fragte er. »Komm, mache mich los und nimm sie dir«. »Lege sie in meine Hand«, erwiderte er. Sie tat das und bat wieder: »Mache mich los«. »Nein, ich mache dich nicht los«, gab er zur Antwort und ging weg. Erst am Abend kam er nach Hause. »Wo bist du so lange geblieben, mein Sohn?« fragte der Riese. »Väterchen, ich habe deine Augen geholt, lege dich hin, dann mache ich sie dir wieder gesund«. Jener legte sich hin, und er setzte ihm seine Augen ein, dann fuhr er ihm mit der Hand über dieselben und versteckte sich, bis sie heil waren. Darauf befal ihm sein Vater hervor zu kommen, und als er das getan hatte, sagte er ihm: »Jetzt bist du wirklich mein Sohn, ich will nun die Ziegen weiden gehen, nimm du dir diese drei Schlüssel, zwei Thüren darfst du öffnen, die dritte öffne nicht«. Als der Junge die beiden Thüren öffnete, fand er ein Zimmer voll Kostbarkeiten und eins voll Goldstücke. Da dachte er: »Ich will auch dieses hier öffnen, damit ich sehe, wesshalb mein Vater gesagt hat, ich solle es nicht öffnen«. Er öffnete es; da fand er inmitten des Zimmers ein Bassin, daran liess er sieh nieder; da kamen drei Tauben, die verwandelten sich in Frauen, legten ihre Ueberwürfe auf die Erde ab und stiegen in das Bassin. Er ergriff den Ueberwurf einer von ihnen; alsbald flogen die beiden andern weg, nur die eine blieb zurück. »Um deines Heiles willen«, hob sie an, »gib mir meinen Ueberwurf zurück«. »Den habe ich«, erwiderte er, »mir gehört er«. Darauf[116] brachte er die Frau aus der Höle, holte ein Pferd heraus und entführte sie. Er nahm sie mit sieh in seine Heimat; dort sagten die Leute: »Der Prinz ist zurück gekommen«. Nun heiratete er die Frau. Als sie einst mit einander schäkerten, fiel der Ueberwurf in's Feuer, und es verbrannte etwas von ihm. Da flog die Frau, wieder zur Taube geworden, davon, mit ihr die Kinder, die sie ihm geboren hatte. – Er aber kehrte zum Riesen zurück und sagte: »Väterchen!« »Mein Sohn, wo bist du gewesen?« »So und so hat eine Frau an mir gehandelt«, erzälte er ihm. »Woher war die Frau?« »Väterchen, aus dem Zimmer, von welchem du sagtest, ich solle es nicht öffnen«. »Huh! mein Sohn, eben desswegen habe ich dir gesagt, du sollest es nicht öffnen; nun komm, lass uns zum Vogel Ssîmer gehen«. Sie begaben sich zum Vogel Ssîmer und der Riese fragte ihn: »Wie steht dein Befinden, mein Bruder?« »Mögest du dich wol befinden«, erwiderte der Vogel, »was ist dein Begehr?« »Eine Frau nebst ihren Kindern ist hierher geflogen, hast du sie nicht gesehen?« »Freilich!« »Wir bitten dich, sie uns zu zeigen«. »Dort im Schlosse ist sie«, entgegnete der Vogel. Der Riese kehrte nun um und der Junge ging zum Schlosse; dort setzte er sich an den vor dem Eingange befindlichen Teich. Bald darauf traten sein Sohn und seine Tochter heraus, kamen zum Wasser und füllten ihren Krug. »Ich bin durstig«, sagte er zu ihnen. Die Tochter weigerte sich, ihm zu trinken zu geben, aber der Sohn sagte: »Da nimm«, dann wandte er sich zu seiner Schwester: »Sage meiner Mutter nicht, dass wir Jemand zu trinken gegeben haben«. »Nein!« erwiderte sie, und die beiden gingen nach Hause zurück. »Wer hat aus eurem Kruge getrunken?« fragte die Mutter. »Niemand hat getrunken«, gaben, sie zur Antwort. Darauf gestand aber der Junge: »Mütterchen, ja, es hat einer getrunken«. »Ruft ihn!« Sie gingen ihn rufen: »He! Mann! komm zu uns«. Er ging hinein. Als die Frau ihn erblickte, fragte sie ihn: »Wie kommst du in diese Gegenden?« »Genug, ich bin hier«, antwortete er. Nun fragten sie ihn, was er wünsche. »Komm, lass uns gehen«, erwiderte er und nahm sie mit sich nach Hause, und sie wurden wieder Mann und Frau. Und nun ist's aus.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 115-117.
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