2. Wie die Buddhisten sie erzählen

[71] Drei Menschenarten waren geschaffen, und da sie unvollkommen waren, wieder vernichtet worden; nun betraute Brahma Wischnu mit der Schöpfung der vierten Menschenrasse. Die Gottheit fuhr zur Erde nieder und knetete aus Lehm ein Wesen, das sein Ebenbild war. Als sie damit fertig war, setzte sie einen der von Brahma erschaffenen Geister (sukma) und eine Seele (jiwa) in den Körper, um ihm Leben (langeng) einzuhauchen. Sie befahl dem Geist, solange in dem Körper zu bleiben, bis der Tod ihn wieder befreite. Dann sollte der Geist bei Brahma über sein Tun und Lassen während seiner Lebzeiten auf Erden Rechenschaft ablegen.

Als nun Wischnu den Geist in den Körper eingesetzt hatte, fehlte es demselben noch am Atem (prana), und so zerfiel er in viele Stücke. Die Scherben dieses mißglückten Schöpfungsversuches, welche jedoch von dem Geiste schon beseelt worden waren, nutzten die dunkle Nacht, zerstreuten sich in alle Winde und wurden dem Brahma abspenstige Geister.

Wischnu wollte jedoch den Auftrag von Brahma so gut wie möglich ausführen, und er sah ein, daß er seinem Gebilde außer einem Geiste und einer Seele noch andere Eigenschaften verleihen mußte, damit der Geist über den Körper herrschen konnte.

So knetete er denn zum andern Male aus Lehm ein menschliches Gebilde; das war besser als das erste, so daß es, als er der Gestalt samt anderen verschiedenen Eigenschaften auch einen Geist schenkte, zum lebendigen Wesen wurde. Diesen Menschen nannte er Adina.

Wischnu brachte Adina in einen großen, schönen Garten und setzte sich darauf ans Meer, um über seine Schöpfung nachzusinnen. [71] Als er so in Gedanken versunken war, deuchte es ihm, daß es wohl nicht genügte, einen Mann erschaffen zu haben; es müßte auch eine Frau geben, damit die Erde sich bevölkern könnte. Als er aus seinem Denken erwachte, erblickte Wischnu, gerade als die Sonne aufging, eine wunderprächtige Lotosblume.

»Dem Manne, den ich schuf,« dachte Wischnu bei sich, »gab ich von allen Schöpfungen die beste Gestalt, doch sehe ich jetzt, daß die Lotosblume die schönste ist. An Schönheit überragt sie ja alle Schöpfungen. Wie prächtig erschließen sich ihre Blüten vor den Strahlen der aufgehenden Sonne, es gibt auf Erden nichts, das dem an Schönheit und Lieblichkeit gleich ist.«

Und wiederum versank Wischnu in Nachdenken. Als er sich dann erhob, sagte er: »Ich muß für den Mann noch ein Wesen schaffen, das der Lotosblüte unter den Blumen gleicht, damit der Mann sich des Besitzes einer schönen Lebensgefährtin erfreut.«

So redete Wischnu zur Lotosblume:

»Verwandele dich in eine schöne Frau und erscheine vor mir.« Bei diesem Befehl erbebte die Oberfläche des Wassers, und die Lotosblume erschien in der Gestalt einer schönen Frau vor Wischnu. So wurde die Frau geschaffen.

Wischnu freute sich über seine Schöpfung, doch war die Freude nicht ungetrübt, denn die in ein Weib verwandelte Lotosblume stand unbeweglich vor ihm. Er sah, daß die Frau auch alle Eigenschaften eines vollkommenen Lebewesens haben müßte, und so sprach er denn zu dem von ihm erschaffenen Weibe:

»Bis jetzt warst du die Blüte des Sees, von heute ab sollst du aber die Blüte des Menschengeschlechtes sein. Hewa soll dein Name sein. Du sollst dich vermehren und zur Mutter eures Geschlechtes werden. Sprich, schöne Blume, was du noch haben möchtest, und es soll dir gewährt werden.«

Und leise wie der sanft dahinsäuselnde Wind antwortete Hewa: »Herr, Ihr habt aus mir ein lebend Wesen gemacht, nun sagt, wo soll ich wohnen? Vergeßt nicht, daß jeder Windhauch mich erbeben läßt. Auch fürchte ich mich vor den Stürmen, dem Regen,[72] den Blitzen, dem Donner, sogar vor der Wärme der Sonne bin ich bange. Ich ängstige mich vor den wilden Tieren, die mich verschlingen möchten. Welche Wohnung, Herr, habt Ihr mir bestimmt?«

Wischnu dachte nach und sagte: »Willst du auf den Spitzen der Berge wohnen?«

»Herr, dort ist es zu kalt, das mag ich nicht.«

»Nun, dann will ich dir mitten im Meer ein Schloß bauen.«

»Dort stürmt es, und im Meere gibt es viele Schlangen und Ungeheuer, die fürchte ich.«

»Willst du denn ein Haus in der Wüste haben, das fern von allen wilden Tieren?«

»Nein, Herr! Auch dort wehen die Sandstürme und begraben mich unter sich.«

»Nun, wo soll ich dir denn ein Haus bauen? Willst du im Innern der Erde, im Herzen der Felsen hausen, fern vom irdischen Gewühl?«

»Herr, dort ist es zu dunkel.«

Wischnu setzte sich auf einen Stein und verfiel in tiefes Nachsinnen. Hewa blieb voller Erwartung vor ihm stehen. Inzwischen war die Sonne vollends aufgegangen, ein Strahl leuchtete über die Oberfläche des Wassers und über die Bäume; alles erstrahlte in seinem Glänze. Die Vögel sangen ihr Morgenlied.

Adina war beim ersten Morgenrot erwacht; er erging sich in seinem Garten, und als er beim See angelangt war, erblickte er dies Weib, das Wischnu erschaffen hatte. Er war ganz verzückt im Anschauen des Lebewesens, das da vor ihm stand.

Als Wischnu Adinas verwunderten Blick bemerkte, war es mit seiner Gelassenheit zu Ende, und er sagte zu Hewa: »Liebliche Schöpfung, jetzt habe ich einen Platz gefunden, der deiner würdig ist. Du sollst im Herzen dieses Mannes wohnen,« und gleichzeitig ließ Wischnu sie einen Blick in das Herz Adinas tun.

Kaum hatte Hewa in das Herz des Adina geschaut, da zitterte und bebte sie, es wurde ihr angst, und sie erblaßte. Wischnu [73] wunderte sich darüber und fragte: »Blume in Menschengestalt, fürchtest du dich auch vor dem Herzen dieses Mannes?«

»O Herr!« antwortete Hewa, »welch eine Wohnstatt weist Ihr mir an! In diesem einen Herzen spüre ich die Kälte der Bergspitzen, die Stürme des Meeres, die Orkane der Wüsten, die Finsternis der Höhlen und die Gier des wilden Tieres. Deshalb fürchte ich mich.«

Sprach nun der große und weise Wischnu:

»Fürchte dich nicht, Blume in Menschengestalt. Ist Adinas Herz kalt, soll dein Atem es erwärmen. Erscheint es dir als ein tiefes Wasser, so findest du darin Perlen. Siehst du einen Sturm nahen, so verjage ihn durch deine Lieblichkeit. Erblickst du kahle Felsen, so wisse, darauf wachsen die Blumen des Glücks; glaubst du eine dunkle Höhle gefunden zu haben, so weißt du auch, daß der Sonnenstrahl die Finsternis erhellt.« Und als Adina merkte, daß Hewa noch immer ängstlich war, sagte er zu ihr: »Ja, tue dies, liebliches Wesen, nimm deinen Platz in meinem Herzen ein und werde zur Mutter des Menschengeschlechtes.«

Hewa freute sich über die männliche Schönheit Adinas, sie bedachte sich auch keinen Augenblick und sank ihm in die Arme. Als Wischnu sah, daß seine Schöpfung geglückt war, verließ er die Erde, um Brahma von der Ausführung des Auftrages zu berichten. Brahma hörte, daß die erste Schöpfung des sterblichen Menschen mißglückt war; und da er fürchtete, daß die aufrührerischen Geister auf sein Schöpfungswerk eifersüchtig werden würden, rief er sie zu sich und machte sie zu Engeln im Himmel (swarga).

Quelle:
Hambruch, Paul: Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde. Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 71-74.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Nachtstücke

Nachtstücke

E.T.A. Hoffmanns zweiter Erzählzyklus versucht 1817 durch den Hinweis auf den »Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier« an den großen Erfolg des ersten anzuknüpfen. Die Nachtstücke thematisieren vor allem die dunkle Seite der Seele, das Unheimliche und das Grauenvolle. Diese acht Erzählungen sind enthalten: Der Sandmann, Ignaz Denner, Die Jesuiterkirche in G., Das Sanctus, Das öde Haus, Das Majorat, Das Gelübde, Das steinerne Herz

244 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon