19. Kandhulok

[244] Es war einmal ein Mann, der hieß Saddhulla; der hatte eine Frau, die hieß Samena. Sie waren schon eine lange Zeit verheiratet, hatten aber noch immer kein Kind bekommen. [244] Als eines Tages Mann und Frau wieder einmal beisammen saßen, rief die Frau: »Weshalb schenkt Gott mir denn kein Kind, einen Jungen, und wäre er noch so garstig und dumm, ich möchte ihn doch haben.« Der Mann erwiderte: »Nein, sag' das nicht zum zweiten Male! Wenn deine Bitte erhört würde, und wir bekämen ein Kind, und es wäre dumm, was sollten wir da mit ihm anfangen! Ich für mein Teil will solch' ein Kind nicht haben.« Die Frau antwortete: »Nun, wenn du es auch nicht haben willst, ich will es schon, wenn ich nur überhaupt ein Kind bekomme.«

Als die Frau eine Zeit lang so gerufen hatte, wurde sie schwanger und bekam einen Jungen, den nannten sie Kandhulok.

Als er heranwuchs und schon so groß war, daß er kleine Aufträge ausführen konnte, wollte sein Vater einmal ein Fest geben. Er befahl ihm, die Einladungen auszutragen. Als Kandhulok zum Vater kam, sagte der: »Hör' zu, geh' und lade den Kadi ein!« Kandhulok antwortete: »Wie sieht denn der Kadi aus, ich kenne ihn nicht.« Die Mutter erwiderte: »Wenn du jemanden triffst, der eine weiße Jacke an hat, dann ist es der Kadi.« Danach begab er sich fort.

Unterwegs kam er an einen Teich und sah dort einen weißen Reiher. Er dachte, das ist der Kadi; er ging auf ihn zu, um ihn aufzufordern. Als er aber beim Reiher war, flog dieser weg. Da rief er: »Du sollst eingeladen werden, du scheinst aber keine Lust zu haben, warum fliegst du denn sonst weg?« Darauf kehrte er heim. Als er nach Hause gekommen war, fragte ihn die Mutter: »Nun, hast du den Kadi nicht getroffen und herbegleitet?« Er antwortete: »Ich habe ihn mit vielen anderen beim Teiche getroffen, ich bin auf ihn zu gegangen, aber stets machte er, daß er wegkam, da bin ich denn umgekehrt, ich kann ihm doch nicht überallhin nachfolgen.« Die Mutter sagte: »Schnell, mach', daß du in die Moschee kommst, da wirst du ihn schon finden.« Er fragte weiter, und die Mutter erwiderte ihm: »Wenn du da jemand siehst, der in seinen Bart hineinbrummelt, dann geh' zu dem, das ist der [245] Kadi; bestell' ihm, was ich dir gesagt habe und lade ihn zu uns ein. Nun geh'!« Darauf begab er sich fort.

Unterwegs traf er auf Bienen. Er ging auf sie zu. Und als er ganz in ihrer Nähe war, da zerstachen sie ihm sein ganzes Gesicht. Er konnte den Schmerz nicht aushalten, kehrte um, heulte, brüllte und schrie um Hilfe. Als der Vater das Gebrüll vernahm, erschrak er; er kam schnell herbeigelaufen und hatte ein großes Messer mitgenommen. Als er zur Stelle war, fragte er den Jungen aus und bekam zur Antwort: »Der Kadi hat mich verprügelt, er ist ein schlechter Kerl.« Der Vater sah sich das Gesicht an, glaubte ihm und ging mit ihm nach Hause. Als sie dort anlangten, kamen aber etliche Bienen zum Vorschein. Da wurde der Vater sehr böse und jagte ihn fort.

Er lief auf gut Glück davon und kam nach dem Hause eines Diebes. Dort machte er Halt und sagte: »Habt Ihr nichts dagegen, wenn ich bei Euch unterkrieche?« Der Dieb antwortete: »Ja, das kannst du. Weshalb soll ich dich nicht bei mir aufnehmen? Tu nur, was ich dir sage.« So kam er denn bei dem Diebe unter.

Als er eine Weile dort gewesen war, wollte der Dieb ihn das Stehlen lehren und sagte: »Soll ich dir heute nacht einmal zeigen, wie man das Stehlen macht?« Kandhulok antwortete: »Gewiß, gern!« Als es nun Nacht geworden war, so ungefähr um Mitternacht, machten der Dieb und Kandhulok sich auf, um zu stehlen. Sie gingen nach dem Nachbarhause des Kandhulok. Als sie da ankamen, waren die Leute gerade schlafen gegangen. Sie untergruben das Haus. Als sie durchkommen konnten, erhielt Kandhulok den Auftrag, hineinzugehen. Der Dieb sagte zu ihm: »Geh' nun hinein und paß auf, daß du keinen Lärm machst, sonst hören dich die Leute.«

Kandhulok begab sich also ins Haus. Drinnen sah er große Kisten stehen; er suchte sich die größte aus. Als er sie aber aufhob, war sie doch recht schwer. Er ließ sie hinfallen und weckte dabei die Hausbewohner auf. Die erschraken nicht [246] schlecht, als sie das Gepolter vernahmen. Sie nahmen ihre Speere und gingen auf die Suche. Als sie nun Kandhulok erblickten, legten sie die Speere hin und fragten: »Was? Kandhulok, darfst du nachts in mein Haus kommen?« Kandhulok antwortete: »Nein, Oheim, ich bin nicht hier hereingekommen, um etwas zu stehlen. Aber draußen vor der Tür, da bin ich einem Dieb begegnet; der hat mir befohlen, hier hereinzukriechen; ich war bange vor dir und habe tüchtig geschrien.«

Als der Besitzer des Hauses dies hörte, hatte er Mitleid mit ihm und sagte: »Na, wenn die Sache so ist, bleibe man bei mir. Die Muhme hat dann auch Gesellschaft, wenn ich nicht hier bin, aber lauf' nicht weg.« Einige Tage lang fühlte Kandhulok sich denn auch ganz wohl.

Nach dieser Zeit aber bat er den Oheim und sagte: »Wenn du nichts dagegen hast und es mir erlaubst, dann möchte ich weiterziehen.« Der Oheim erwiderte: »Nun, meinetwegen! Aber geh' heimlich, die Muhme braucht es nicht zu wissen.« Als es dunkel geworden war, machte er sich auf. Auf dem Wege traf er seine Genossen, die zu einer Hochzeit gehen wollten. Sie schlugen ihm vor, mitzugehen. Kandhulok antwortete: »Ich geh' mit, wenn es viel zu essen gibt.« Seine Gefährten sagten: »Hab' nur keine Angst, da gibt's mehr, als du vertragen kannst.« So ging denn Kandhulok mit auf die Hochzeit.

Als sie mit dem Bräutigam vor das Haus seines Schwiegervaters gekommen waren, nötigte man sie, hereinzukommen und sich auf der Galerie hinzusetzen. Nach einer Weile wurde das Essen herausgebracht, und zwar eine gewaltige Menge. Als Kandhulok das viele Essen sah, griff er zu; er überaß sich dermaßen, daß er nachts das ganze Bett vollmachte.

Am andern Tag badete er sich im Fluß und hatte seine liebe Not, sich zu säubern. Aber so machte er es immer, wenn er Hochzeit feiern ging.

Quelle:
Hambruch, Paul: Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde. Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 244-247.
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