[316] 54. Die Erzählung vom Urteil des Schemjaka

In irgendeinem Orte lebten einmal zwei Brüder1, die waren Bauern: der eine war reich, der andere war arm. Der Reiche hatte dem Armen viele Jahre lang geborgt, aber er vermochte seiner Armut nicht abzuhelfen. Nach einiger Zeit kam der Arme zum Reichen und bat ihn um ein Pferd, damit er Brennholz heimfahren könnte. Der Bruder wollte ihm jedoch das Pferd nicht geben und sprach: »Bruder, ich habe dir viel geborgt und konnte dein Los doch nicht verbessern.« Und als er ihm schließlich das Pferd gab, nahm jener es und bat ihn noch um ein Kummet. Der Bruder wurde böse auf ihn, begann auf seine Armut zu schelten und sprach: »Was, nicht einmal ein Kummet hast du!« Und er gab ihm das Kummet nicht.

[316] Der Arme verließ den Reichen, nahm seinen Schlitten, band ihn an den Schwanz des Pferdes, fuhr in den Wald und kam auf seinen Hof. Er vergaß aber das Schwellbrett fortzunehmen, und als er das Pferd mit der Knute schlug, warf es sich mit aller Kraft samt dem Gefährt über das Schwellbrett und riß sich den Schwanz ab. Der Arme führte das schwanzlose Pferd zu seinem Bruder. Dieser sah, daß das Pferd ohne Schwanz war, und begann seinen Bruder zu schelten, weil er das geliehene Pferd zu Schanden gemacht hatte. Er nahm das Pferd nicht zurück, sondern ging in die Stadt zum Richter Schemjaka, um seinen Bruder zu verklagen. Der Arme sah, daß sein Bruder fortgegangen war, um ihn zu verklagen, und er folgte ihm, da er wußte, daß man aus der Stadt nach ihm schicken würde und er, wenn er nicht selbst hinginge, noch die Gebühr für den Büttel bezahlen müßte.

Und sie kamen beide in ein Dorf vor der Stadt. Der Reiche ging zum Popen des Dorfes, um dort zu übernachten, denn er war mit dem Popen bekannt. Der Arme ging gleichfalls zum Popen, trat ein und legte sich oben auf die Pritsche hin. Der Reiche erzählte von dem Unglück mit seinem Pferde, weswegen er zur Stadt ginge. Darauf begann der Pope mit dem Reichen Abendbrot zu essen, den Armen aber luden sie nicht ein mitzuessen. Der Arme sah von seiner Pritsche aus, wie der Pope mit seinem Bruder aß. Plötzlich stürzte er von der Pritsche auf die Wiege herab und drückte den Sohn des Popen zu Tode. Der Pope schloß sich dem Bruder an und ging gleichfalls in die Stadt, den Armen wegen seines toten Sohnes zu verklagen. Und sie kamen zur Stadt, wo der Richter wohnte. Der Arme ging hinter den beiden her. Sie gingen in die Stadt hinein über eine Brücke, unter der ein Einwohner dieser [317] Stadt seinen Vater zur Badestube führte. Der Arme aber wußte, daß ihm vom Bruder und vom Popen Verderben drohte, und wollte sich selbst den Tod geben. Er warf sich von der Brücke in den Graben, um sich zu Tode zu stürzen, fiel auf den alten Mann und drückte ihn tot. Man ergriff den Armen und führte ihn vor den Richter.

Der Arme überlegte, wie er wohl dem Urteil zu entgehen vermöchte und dem Richter etwas zustecken könnte. Und da seine Taschen leer waren, kam er auf einen Einfall: er nahm einen Stein, wickelte ihn in ein Tuch, legte ihn in seine Mütze und trat vor den Richter. Der Bruder aber legte seine Klageschrift vor wegen des Pferdes und beschwerte sich über den Armen beim Richter Schemjaka. Dieser hörte sich die Klage an und sprach zum Armen: »Verantworte dich!« Der Arme wußte jedoch nicht, was er sagen sollte, nahm den eingewickelten Stein aus der Mütze, zeigte ihn dem Richter und verneigte sich. Der Richter vermutete, daß der Arme ihm wegen des Rechtshandels etwas anbieten wollte, und sagte zum reichen Bruder: »Da dein Bruder dem Pferd den Schwanz abgerissen hat, so nimm das Pferd von ihm nicht eher, als bis der Schwanz wieder nachgewachsen ist. Sowie der Schwanz aber nachgewachsen ist, nimm dein Pferd von ihm zurück.«

Darauf begann die zweite Gerichtsverhandlung. Der Pope trug seine Klage wegen des toten Sohnes vor, den der Arme ihm erdrückt hatte. Dieser aber nahm wieder den in das Tuch eingewickelten Stein und zeigte ihn dem Richter. Der sah ihn und glaubte, daß der Arme ihm für das zweite Urteil ein zweites Stück Gold anbieten wollte, und sagte zum Popen: »Da er deinen Sohn getötet hat, so überlaß ihm die Popin, deine Frau, auf so lange Zeit, bis er mit ihr für dich ein Kind haben wird, dann nimm die Popin und das Kind von ihm zurück.«

Darauf begann die dritte Verhandlung darüber, daß er sich von der Brücke gestürzt und dem Sohn den alten Vater erschlagen hatte. Der Arme nahm wieder den in das Tuch eingewickelten Stein aus seiner Mütze heraus und zeigte ihn zum drittenmal dem Richter. Der Richter vermeinte, daß er ihm für das dritte Urteil einen dritten Beutel verspräche, und [318] sagte zu dem, dessen Vater getötet war: »Geh du auf die Brücke, und der deinen Vater erschlagen hat, wird sich unter die Brücke stellen, du aber stürze dich von der Brücke auf ihn und erschlage ihn ebenso, wie er deinen Vater erschlagen hat.«

Nach der Verhandlung verließen die Kläger und der Angeklagte den Gerichtshof. Der Reiche verlangte vom Armen sein Pferd zurück, der aber antwortete ihm: »Nach richterlichem Spruch geb ich dir dein Pferd erst dann zurück, wenn ihm wieder ein Schwanz gewachsen ist.« Der reiche Bruder bot ihm fünf Rubel, damit er ihm das Pferd auch ohne Schwanz ließe. Der Arme nahm die fünf Rubel und gab dem Bruder das Pferd zurück. Dann begann der Arme beim Popen nach des Richters Entscheid die Popin einzufordern, um mit ihr ein Kind zu zeugen und sie ihm darauf mit dem Kind wieder zurückzugeben. Der Pope aber bat ihn fußfällig, ihm die Popin nicht fortzunehmen, und der Arme erhielt von ihm zehn Rubel. Darauf sprach der Arme zum dritten Kläger: »Laut richterlichem Spruch werde ich mich unter die Brücke stellen, du aber geh auf die Brücke und wirf dich ebenso auf mich, wie ich mich auf deinen Vater geworfen habe.« Jener aber dachte bei sich: »Springe ich von der Brücke hinunter, so werde ich ihn wohl nicht erschlagen, dafür aber selbst zu Tode kommen.« Und auch dieser verglich sich mit dem Armen und gab ihm ein Entgelt dafür, daß er nicht darauf bestand, er solle sich von der Brücke auf ihn hinunterstürzen. Und so erhielt der Arme von jedem der drei Kläger etwas.

Der Richter aber sandte einen Boten zum Angeklagten und verlangte von ihm die drei vorgezeigten Beutel. Der Gerichtsbote forderte vom Armen die drei Beutel und sprach: »Gib, was du aus deiner Mütze in den Beuteln dem Richter gezeigt hast. Er hat mir aufgetragen, es von dir in Empfang zu nehmen.« Dieser aber nahm aus seiner Mütze den eingewickelten Stein[319] und zeigte ihn dem Boten. Der aber sprach zu ihm: »Warum zeigst du mir den Stein?« Der Angeklagte antwortete ihm: »Der Stein war für den Richter bestimmt, denn hätte er nicht für mich entschieden, so würde ich ihn mit diesem Stein erschlagen haben.« Der Diener kehrte zurück und erzählte alles dem Richter. Als dieser ihn angehört hatte, sagte er: »Ich danke und lobe Gott, daß ich jenem Recht gegeben habe; hätte ich es nicht getan, würde er mich erschlagen haben.« Der Arme ging darauf nach Haus, war froh und lobte Gott.

Fußnoten

1 Wie das Folgende zeit und die Varianten es beweisen, gibt unser Text hier nicht das Ursprüngliche: die beiden sind eigentlich zwei Bauern und leibliche Brüder.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Russische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 316-320.
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