Auf dem Knochenschüttler

[36] Deutlich sehe ich noch den Kunstreiter vor mir. Sieh! da kommt er, angestaunt von jung und alt, dahergeschnauft auf einem pferdelosen Wagen. Auf dem ersten Motorschnauserl also? O nein! Motor und Schnauferl, beides ist er noch in höchsteigener Person. Schweißtropfen fallen ihm von der Stirne, so sauer und schwer fällt ihm die Rolle, Motor zu spielen. Doch es muß sein; denn sein »pferdeloser Wagen« ist nichts anderes als ein Zweirad, nach dem Muster des Urvelozipeds, der alten Draisschen Laufmaschine – aber mit den von dem Schweinfurter Philipp Fischer erfundenen Tretkurbeln am Vorderrad.

Der badische Forstmeister K. v. Drais hatte sich seine zweiräderige Laufmaschine im Jahre 1817 zu Mannheim patentieren lassen. Verlacht, verhöhnt, vergessen – das war sein Erfinderschicksal. Erst als ein paar Menschenalter später das Fahrrad als »Bicycle« und »Veloziped« aus dem Ausland nach Deutschland kam, wurde es geachtet, geehrt und allgemein eingeführt.

Wie ich zu meinem Fahrrad kam?

Es war im Jahre 1867. Da kam eines Tages mein Freund, Buchdruckereibesitzer Walter, zu mir. Er war von einer Reise aus Stuttgart zurückgekommen. Dort hatte er den eleganten Renner gesehen und ruhte nicht – da er selbst schlecht zu Fuß war –, bis er ihm gehörte. Es war aber leichter, die Maschine zu kaufen, als auf dem schweren Ding zu fahren. Bei fast all seinen Versuchen artete das Fahren in ein Fliegen aus. Daher hatte er den eigenartigen Sport bald satt und sah sich nach einem neuen Käufer um. Da er meine[36] »Schrullen« kannte, muß er wohl in mir einen Liebhaber gewittert haben. Ich musterte das kuriose Ding und war sofort Feuer und Flamme. Mit dem Fahrrad von heute hat es allerdings nichts gemeinsam als eben die zwei Räder. Diese waren aus Holz und wurden durch eiserne Reisen zusammengehalten. In ganz primitiver Weise saß der Sitz zwischen Hinter- und Vorderrad auf einer langgestreckten Feder. Etwas größer als das Hinterrad war das Vorderrad, das etwa 80 cm im Durchmesser hatte. Angetrieben wurde das Vorderrad durch Tretkurbeln, die direkt mit ihm in Verbindung standen.

Schon nach vierzehn Tagen angestrengtester Versuche konnte ich das Rad meistern, was mein Freund nie gelernt hatte. Es war allerdings keine kleine Arbeit, auf Mannheims holperigem Pflaster das Gleichgewicht zu halten. Aber der hüpfende Gaul mußte gehorchen, ja, ich mutete ihm – lies mir! – sogar wiederholt die vermessene Aufgabe zu, große Touren über Land zu machen (z. B. Mannheim – Pforzheim).

Wenn ich einkehrte und mein zentnerschweres Rad an irgendeine Wirtshausecke lehnte – guten Wirtshäusern bin ich zeitlebens nie aus dem Wege gegangen –, so sammelte sich gern viel neugieriges Volk, kleines und großes, um die plumpe Maschine. Und keiner wußte, ob er mehr das schwere Fahrzeug mit seinen eisen bereisten Holz rädern und seinem schlecht federnden Sattel bespötteln oder das geschickte Balancieren des »Kunstreiters auf nur zwei Rädern« bewundern sollte.

Das alles kümmerte indes den »Kunstreiter« gar wenig. Stolz pedalierte er auf und davon. Und aus seinen Augen[37] leuchtete etwas von dem, das in ihm lohte und brannte – von der Begeisterung für das Problem des selbst laufenden Fahrzeugs.

Heute, wo die kleinen Kinder auf dem Fahrrad zur Welt kommen, wird man es kaum verstehen, daß der erste Radler, der durch Mannheims Straßen pedalierte, einst durch die Lach- und Spottsalven der Menge Spießruten fahren mußte genau wie einst Drais auf seiner Laufmaschine.

Eines schönen Tages mußte das schwere Holzungetüm trotz aller Begeisterung in die Rumpelkammer. Seine Eisenreifen fraß der Rost und auch die Holzräder fielen dem Zahn der Zeit zum Opfer. Was aber nicht in die Rumpelkammer wanderte, was nicht verrostete und zusammenfiel, das war die Idee, pferdelos zu fahren. Im Gegenteil: Die packte mich jetzt erst recht mit der Allgewalt der forschenden Spürkraft und ließ mir Tag und Nacht keine Ruhe mehr.

Zwei Dinge waren mir jetzt klar. Zwei Dinge stellten sich nach diesen mißlungenen Versuchen wie abschreckende Wegweiser auf meine Forscherbahn:

Erstens durfte mein Ideal nicht zwei Räder bekommen. Das war zu wenig. Ein Wagen, der in bezug auf Bequemlichkeit mit der eleganten Droschke in Wettbewerb treten konnte, sollte es werden.

Zweitens mußte dabei unter allen Umständen die Menschenkraft ersetzt werden durch Maschinenkraft. Aber wie? Das war die Frage, die mich fortan beschäftigte. –

Mannheim mit seiner emporstrebenden Industrie und seinem aufblühenden Handel muß einen starken, nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht haben. Das merkte ich erst so recht, als ich nach zwei Jahren die Rhein-Neckar-Stadt verließ.[38]

Um auch im Brückenbau Erfahrungen zu sammeln, trat ich bei Gebrüder Benckiser in Pforzheim ein. Hier lernte ich aber noch mehr kennen als den Brückenbau. Hier war mir das Glück begegnet, jung und schön.

Das Glück, das später mein Lebensglück werden sollte, indem es meinem schöpferischen Ringen und Schaffen wie eine zweite Triebfeder gegen hemmende Widerstände immer wieder neue Spannkraft verlieh. Berta Ringer hieß das temperamentvolle Pforzheimer Kind, das fortan mitbestimmend und mitberatend in den Kreis meiner Ideen und Interessen tritt.

Quelle:
Benz, Carl Friedrich: Lebensfahrt eines deutschen Erfinders. Die Erfindung des Automobils, Erinnerungen eines Achtzigjährigen. Leipzig 1936, S. 36-39.
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