Trauerstelze (Motacilla lugubris)

[241] Gewissermaßen das Urbild der Familie ist die Bachstelze, Weiß-, Grau-, Blau-, Haus-, Stein-oder Wasserstelze, Wege-, Wasser-, Quäk- und Wippsterz, Bebe-, Wedel- und Wippschwanz, Klosterfräulein oder Nonne, Ackermännchen usw. (Motacilla alba, cinerea, cervicalis, septentrionalis, brachyrhynchos, fasciata, gularis und dukhunensis). Ihre Obertheile sind grau, Hinterhals und Nacken sammetschwarz, Kehle, Gurgel und Oberbrust schwarz, Stirn, Zügel, Backen, Halsseiten und die Untertheile weiß, die Schwingen schwärzlich, weißgrau gesäumt, wegen der weiß zugespitzten Deckfedern zweimal licht gebändert, die mittelsten Steuerfedern schwarz, die übrigen weiß. Das Weibchen ähnelt dem Männchen; doch ist sein schwarzer Kehlfleck gewöhnlich nicht so groß. Das Herbstkleid beider Geschlechter unterscheidet sich von der Frühlingstracht hauptsächlich durch die weiße Kehle, welche mit einem hufeisenförmigen, schwarzen Bande eingefaßt ist. Die Jungen sind auf der Oberseite schmutzig aschgrau, auf der Unterseite, mit Ausnahme des dunkeln Kehlbandes, grau oder schmutzigweiß. Das Auge ist dunkelbraun, Schnabel und Füße sind schwarz. Die Länge beträgt zweihundert, die Breite zweihundertundachtzig, die Fittiglänge fünfundachtzig, die Schwanzlänge achtundneunzig Millimeter. In Großbritannien tritt neben der Bachstelze eine Verwandte auf, welche man bald als Art, bald als Abart anspricht. Sie, die Trauerstelze (Motacilla lugubris, Yarellii und algira), unterscheidet sich bloß dadurch, daß im Frühlingskleide auch Mantel, Bürzel und Schultern schwarz sind. Wir betrachten sie als Abart.

Die Stelze bewohnt ganz Europa, auch Island, West- und Mittelasien sowie Grönland, und wandert im Winter bis ins Innere Afrikas, obwohl sie einzeln schon in Südeuropa, sogar in Deutschland, Herberge nimmt. Bei uns zu Lande erscheint sie bereits zu Anfang des März, bei günstiger Witterung oft schon in den letzten Tagen des Februar und verläßt uns erst im Oktober, [241] zuweilen noch später wieder. Sie meidet den Hochwald und das Gebirge über der Holzgrenze, haust sonst aber buchstäblich allerorten, befreundet sich mit dem Menschen, siedelt sich gern in der Nähe seiner Wohnung an, nimmt mit Urbarmachung des Bodens an Menge zu, bequemt sich allen Verhältnissen an und ist daher auch in großen Städten eine regelmäßige Erscheinung.

Beweglich, unruhig und munter im höchsten Grade, ist sie vom frühen Morgen bis zum späten Abend ununterbrochen in Thätigkeit. Nur wenn sie singt, sitzt sie wirklich unbeweglich, aufgerichtet und den Schwanz hängend, auf einer und derselben Stelle; sonst läuft sie beständig hin und her, und wenn nicht, bewegt sie wenigstens den Schwanz. Sie geht rasch und geschickt, schrittweise, hält dabei den Leib und den Schwanz wagerecht und zieht den Hals etwas ein, fliegt leicht und schnell, in langen, steigenden und fallenden Bogen, welche zusammengesetzt eine weite Schlangenlinie bilden, meist niedrig und in kurzen Strecken über dem Wasser oder dem Boden, oft aber auch in einem Zuge weit dahin, stürzt sich, wenn sie sich niedersetzen will, jählings herunter und breitet erst kurz über dem Boden den Schwanz aus, um die Wucht des Falles zu mildern.


Bachstelze (Motacilla alba). 3/5 natürl. Größe.
Bachstelze (Motacilla alba). 3/5 natürl. Größe.

Ihr Lockton ist ein deutliches »Ziwih«, welches zuweilen in »Zisis« oder »Ziuwis« verlängert wird, der Laut der Zärtlichkeit ein leises »Quiriri«, der Gesang, welcher im Sitzen, im Laufen oder Fliegen vorgetragen und sehr oft wiederholt wird, zwar einfach, aber doch nicht unangenehm. Sie liebt die Gesellschaft ihresgleichen, aber auch mit ihren Gesellschaftern sich zu necken, spielend umherzujagen und selbst ernster zu raufen. Anderen Vögeln gegenüber zeigt sie wenig Zuneigung, eher Feindseligkeit, bindet oft mit Finken, Ammern und Lerchen an, und befehdet Raubvögel. »Wenn die Stelzen einen solchen erblicken«, sagt mein Vater, »verfolgen sie ihn lange mit starkem Geschreie, warnen dadurch alle anderen Vögel und nöthigen auf solche Weise manchen Sperber, von seiner Jagd abzustehen. Ich habe hierbei oft ihren Muth und ihre Gewandtheit bewundert und bin fest überzeugt, daß ihnen nur die schnellsten Edelfalken etwas anhaben können. Wenn ein Schwarm dieser Vögel einen Raubvogel in die Flucht geschlagen hat, dann ertönt ein [242] lautes Freudengeschrei, und mit diesem zerstreuen sie sich wieder. Auch gegen den Uhu sind sie feindselig; sie fliegen auf der Krähenhütte um ihn herum und schreien stark; doch zerstreuen sie sich bald, weil der Uhu nicht auffliegt.«

Kerbthiere aller Art, deren Larven und Puppen sucht die Bachstelze an den Ufern der Gewässer, vom Schlamme, von Steinen, Miststätten, Hausdächern und anderen Plätzen ab, stürzt sich blitzschnell auf die erspähte Beute und ergreift sie mit unfehlbarer Sicherheit. Dem Ackermann folgt sie und liest hinter ihm die zu Tage gebrachten Kerfe auf; bei den Viehherden stellt sie sich regelmäßig ein, bei Schafhürden verweilt sie oft tagelang. »Wenn sie an Bächen oder sonstwo auf der Erde herumläuft, richtet sie ihre Augen nach allen Seiten. Kommt ein Kerbthier vorbeigestrichen, dann fliegt sie sogleich in die Höhe, verfolgt es und schnappt es fast immer weg«.

Bald nach Ankunft im Frühjahre erwählt sich jedes Paar sein Gebiet, niemals ohne Kampf und Streit mit anderen derselben Art; denn jedes unbeweibte Männchen sucht dem gepaarten die Gattin abspenstig zu machen. Beide Nebenbuhler fliegen mit starkem Geschreie hinter einander her, fassen zeitweilig festen Fuß auf dem Boden, stellen sich kampfgerüstet einander gegenüber und fahren nun wie erboste Hähne ingrimmig auf einander los. Einer der Zweikämpfer muß weichen; dann sucht der Sieger seine Freude über den Besitz »des neu erkämpften Weibes« an den Tag zu legen. In ungemein zierlicher und anmuthiger Weise umgeht er das Weibchen, breitet abwechselnd die Flügel und den Schwanz und bewegt erstere wiederholt in eigenthümlich zitternder Weise. Auf dieses Liebesspiel folgt regelmäßig die Paarung. Das Nest steht an den allerverschiedensten Plätzen: in Felsritzen, Mauerspalten, Erdlöchern, unter Baumgewürzel, auf Dachbalken, in Hausgiebeln, Holzklaftern, Reisighaufen, Baumhöhlungen, auf Weidenköpfen, sogar in Booten usw. Grobe Würzelchen, Reiser, Grasstengel, dürre Blätter, Moos, Holzstückchen, Grasstöcke, Strohhalme usw. bilden den Unterbau, zartere Halme, lange Grasblätter und feine Würzelchen die zweite Lage, Wollklümpchen, Kälber- und Pferdehaare, Werch- und Flachsfasern, Fichtenflechten und andere weiche Stoffe die innere Ausfütterung. Das Gelege der ersten Brut besteht aus sechs bis acht, das der zweiten aus vier bis sechs, neunzehn Millimeter langen, funfzehn Millimeter dicken Eiern, welche auf grau- oder bläulichweißem Grunde mit dunkel- oder hellaschgrauen, deutlichen oder verwaschenen Punkten und Strichelchen dicht, aber fein gezeichnet sind. Das Weibchen brütet allein; beide Eltern aber nehmen an der Erziehung der Jungen theil, verlassen sie nie und reisen sogar mit Fahrzeugen, auf denen sie ihr Nest erbaueten, weit durch das Land oder hin und her. Das erste Gelege ist im April, das zweite im Juni vollzählig. Die Jungen wachsen rasch heran und werden dann von den Eltern verlassen; die der ersten Brut vereinigen sich jedoch später mit ihren nachgeborenen Geschwistern und den Alten zu Gesellschaften, welche nunmehr bis zur Abreise in mehr oder weniger innigem Verbande leben. Im Herbste ziehen die Familien allabendlich den Rohrteichen zu und suchen hier zwischen Schwalben und Staaren ein Plätzchen zum Schlafen. Später vereinigen sich alle Familien der Umgegend zu mehr oder minder zahlreichen Schwärmen, welche an Stromufern bis zu tausenden anwachsen können. Diese so gesellten Heere brechen gemeinschaftlich zur Wanderung auf, streichen während des Tages von einer Viehtrift oder einem frisch gepflügten Acker zum anderen, immer in der Reiserichtung weiter, bis die Dunkelheit einbricht, erheben sich sodann und fliegen unter lautem Rufen südwestlich dahin.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 241-243.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Neukirch, Benjamin

Gedichte und Satiren

Gedichte und Satiren

»Es giebet viel Leute/ welche die deutsche poesie so hoch erheben/ als ob sie nach allen stücken vollkommen wäre; Hingegen hat es auch andere/ welche sie gantz erniedrigen/ und nichts geschmacktes daran finden/ als die reimen. Beyde sind von ihren vorurtheilen sehr eingenommen. Denn wie sich die ersten um nichts bekümmern/ als was auff ihrem eignen miste gewachsen: Also verachten die andern alles/ was nicht seinen ursprung aus Franckreich hat. Summa: es gehet ihnen/ wie den kleidernarren/ deren etliche alles alte/die andern alles neue für zierlich halten; ungeachtet sie selbst nicht wissen/ was in einem oder dem andern gutes stecket.« B.N.

162 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon