Atzel (Eulabes religiosa)

[403] Als Urbild gilt die Atzel oder Meinate, auch Meino genannt (Eulabes religiosa, musica und indica, Gracula religiosa, musica und minor, Pastor musicus), Vertreter einer gleichnamigen Sippe (Eulabes), für welche die vorstehend gegebenen Merkmale gelten. Ihre Länge beträgt sechsundzwanzig, die Breite funfzig, die Fittiglänge funfzehn, die Schwanzlänge sieben Centimeter. Das Gefieder ist tiefschwarz, auf Kopf und Hals mit tief veilchenfarben, auf dem übrigen Kleingefieder mit metallischgrün schimmernden Federenden; die Wurzeln der Handschwingen sind weiß und bilden eine sichtbare Flügelbinde. Die sehr lebhaft hochgelb gefärbten Hautwülste beginnen hinter jedem Auge, ziehen sich über die Ohren dahin, verdicken sich hier und heften sich mit einem schmalen Streifen an den Scheitel an. Ein anderer Fleck unter dem Auge ist ebenfalls nackt und gelb gefärbt. Der Schnabel ist orangefarbig, der Fuß gelb, das Auge dunkelbraun.

[403] Die Meinate bewohnt die Wälder Indiens. Sie ist sehr häufig in dem Ghatgebirge und auf anderen Höhen bis zu tausend Meter über dem Meere, aber nicht gleichmäßig über das Land vertheilt; denn sie tritt bloß an gewissen Orten regelmäßig auf und fehlt anderen Gegenden gänzlich. Man begegnet ihr gewöhnlich in kleinen Flügen von fünf oder sechs Stück, während der kalten Jahreszeit jedoch auch in zahlreichen Schwärmen, welche dann unter allen Umständen, am liebsten in Bambusdickichten an den Ufern von Gebirgsströmen, gemeinschaftlich übernachten.


Atzel (Eulabes religiosa). 3/8 natürl. Größe.
Atzel (Eulabes religiosa). 3/8 natürl. Größe.

Während ihres Freilebens frißt sie ausschließlich Früchte und Beeren der verschiedensten Art und besucht deshalb, oft nicht gerade zur Zufriedenheit des Besitzers, alle nahrungsversprechenden Orte. Sie ist ein lebendiger, kluger und beweglicher Vogel, welcher in seinem Wesen und Betragen unserem Staare am nächsten kommt. Ihr Gesang ist sehr reichhaltig, wechselvoll und anmuthend, obgleich auch er einige unangenehme Laute hat. Die Kunst, andere Töne nachzuahmen, besitzt die Atzel in hohem Grade, wird deshalb oft gezähmt und, wenn sie außerordentliches leistet, schon in Indien oder auf Java mit zwei- bis dreihundert Mark bezahlt. Sie gewöhnt sich rasch an ihren Gebieter, fliegt frei im ganzen Hause umher oder aus und ein, sucht sich den größten Theil ihres Futters selbst, befreundet sich mit den Hausthieren und ergötzt jedermann durch ihr heiteres Wesen, ihre Gelehrigkeit und ihre Nachahmungsgabe. Liebhaber versichern, daß sie hinsichtlich der letzteren alle Papageien bei weitem übertreffe. Sie lernt nicht nur den Ton der menschlichen Stimme genau nachahmen, sondern merkt sich, wie der bestsprechende Papagei, ganze Zeilen, lernt Lieder pfeifen, ja selbst singen, ohne dabei die unangenehmen Eigenschaften der Sittiche zu bethätigen. Freilich [404] leisten nicht alle Atzeln gleiches. Ich habe einzelne kennen gelernt, welche in der That allerliebst schwatzten und hierin unermüdlich waren, von der großen Mehrzahl aber nichts anderes erfahren, als daß sie anfänglich schrieen oder in ohrbelästigender Weise stümperten, später dagegen ebenso stumm als faul wurden, ununterbrochen fraßen, sich zu einem förmlichen Klumpen mästeten und endlich an Verfettung zu Grunde gingen. Zudem zeigten sie sich anderen Vögeln gegenüber unfreundlich und zänkisch, mißhandelten ihre Käfiggenossen, verunreinigten das Gebauer in widerwärtiger Weise und verleideten auch dem eifrigsten Liebhaber ihre Pflege und Wartung.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 403-405.
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