Aniuma (Palamedea cornuta)

[407] Im Waldgebiete des mittleren Brasilien und von hier aus nordwärts über Guayana und Kolumbien sich verbreitend, lebt der Aniuma oder Anhima der Brasilianer (Palamedea cornuta und bispinosa), welcher wegen des Hornes auf dem Scheitel, der dicht befiederten Zügel und des kurzen Kopf- und Halsgefieders als Vertreter der Sippe der Hornwehrvögel (Palamedea) gilt. Das nur in der Haut befestigte Horn erhebt sich auf der Stirne, funfzehn Millimeter weit von der Schnabelwurzel entfernt, und ist ein dünnes, langes, aufrecht stehendes, aber sanftbogig vorwärts gekrümmtes, zehn bis funfzehn Centimeter langes Gebilde, welches an der Wurzel drei Millimeter im Durchmesser hält und ziemlich richtig mit einer Darmsaite verglichen wurde. Der obere Sporn am Flügelbuge ist dreieckig, sehr spitzig, etwa vier Centimeter lang und kaum merklich nach auswärts gekrümmt; der zweite, tiefer unten stehende Stachel nur acht Millimeter lang und fast gerade, aber immer noch kräftig. Die weichen, sammetartigen Federn des Oberkopfes sind weißgrau, gegen die Spitze hin schwärzlich, die der Wangen, Kehle, des Halses, des Rückens, der Brust, der Flügel und des Schwanzes schwarzbraun, die Achsel- und großen Flügeldeckfedern grünlich metallisch schillernd, die kleineren Deckfedern an der Wurzel lehmgelb, die des Unterhalses und der Oberbrust hell silbergrau, breit schwarz gerandet, die des Bauches und Steißes rein weiß. Das Auge ist orangefarben, der Schnabel schwarzbraun, an der Spitze weißlich, das Horn weißlichgrau, der Fuß schiefergrau. Die Länge beträgt achtzig, die Breite zweihundertundzwei, die Fittiglänge fünfundfunfzig, die Schwanzlänge neunundzwanzig Centimeter.

»Der Aniuma«, sagt der Prinz von Wied, »bildet, als ein großer, schöner Vogel, eine Zierde der brasilianischen Urwälder. Er ist mir hier aber nicht eher vorgekommen, als bis ich, von Süden nach Norden reisend, am Flusse Belmonte den sechzehnten Grad südlicher Breite erreicht hatte. Hier tritt er sehr zahlreich auf. Er lebt bloß in den inneren Sertongs, von den Wohnungen der Menschen entfernt. Ich habe ihn nicht, wie Sonnini, in offenen Gegenden angetroffen, sondern bloß in den hohen Urwäldern an den Ufern der Flüsse. Hier hörten wir häufig die laute, sonderbare Stimme, welche einige Aehnlichkeit mit der unserer wilden Holztaube hat, aber weit lauter schallend und von einigen anderen Kehltönen begleitet ist. Zuweilen erblickten wir die Aniumas, wie sie auf den Sandbänken an und in dem Flusse stolz einher gingen. Näherten wir uns ihnen einigermaßen, so flogen sie auf und glichen nun durch die breite Fläche ihrer Flügel, durch ihre Farbe und ihren Flügelschlag den Urubus. Sie fußten alsdann immer auf der hohen Krone eines dicht belaubten Waldbaumes, von wo aus sie häufig ihre Stimme hören ließen, während man sie selten sehen konnte. In der Brutzeit beobachtet man den Aniuma paarweise, übrigens zu vier, fünf bis sechs Stück vereinigt. Sie gehen nach ihrer Nahrung auf den Sandbänken [407] im Flusse umher oder in den in jenen Ufern sehr häufig vorkommenden, nicht mit Bäumen bewachsenen Sümpfen. Die Nahrung scheint hauptsächlich in Pflanzenstoffen zu bestehen; wenigstens habe ich fünf bis sechs dieser Vögel untersucht und in ihrem Magen nur grüne Blätter einer Grasart und einer anderen breitblätterigen Sumpfpflanze gefunden.

Das Nest soll man in den Waldsümpfen unweit des Flusses auf dem Boden finden. Es enthält, nach Versicherung der Botokuden, zwei große, weiße Eier und besteht bloß aus einigen Reiserchen.


Aniuma (Palamedea cornuta). 1/5 natürl. Größe.
Aniuma (Palamedea cornuta). 1/5 natürl. Größe.

Die Jungen laufen sogleich. Das Fleisch liebt man nicht; die Portugiesen essen es nicht, desto gieriger die Botokuden. Die schönen großen Schwungfedern benutzt man zum Schreiben; die Schwanzfedern werden von den Wilden zu ihren Pfeifen verbraucht. Der gemeine Mann hat den Aberglauben, daß dieser Vogel jedesmal zuvor das Stirnhorn ins Wasser tauche, wenn er trinken will.

Marcgrave nennt den Aniuma einen Raubvogel, beschreibt ihn übrigens gut und gibt auch die Stimme durch das Wort ›Vihu‹ sehr richtig an. Er redet ferner von der Unzertrennlichkeit beider Gatten, wovon mir aber die brasilianischen Jäger nichts mitgetheilt haben.«

[408] Gezähmte Aniumas sind zutraulich und folgsam, lassen sich mit Hühnern zusammenhalten und fangen ohne Noth keinen Streit an, setzen sich aber gegen Hunde sofort zur Wehre und wissen ihre Flügelsporen so vortrefflich zu gebrauchen, daß sie gedachte Vierfüßler mit einem einzigen Schlage in die Flucht treiben.

Auf stillstehenden oder ruhig fließenden Gewässern wärmerer Länder, deren Oberfläche mit breiten, schwimmenden Blättern verschiedener Wasserpflanzen, insbesondere der Wasserrosen, bedeckt ist, leben höchst zierliche Vögel, deren Fußbau von dem aller übrigen durch die außerordentliche Länge der Nägel sich unterscheidet. Man findet sie, die Blätter hühnchen, in den Gleicherländern der Alten wie der Neuen Welt; jeder Erdtheil hat seine besonderen Arten, alle aber ähneln sich in der Lebensweise. Jene Blätter sind ihr Jagdgebiet; sie verlassen den schwimmenden Boden nur ausnahmsweise, namentlich, wenn sie brüten wollen.

Abweichend von ihren Zunftverwandten kennen sie kaum Scheu vor dem Menschen, zeigen sich im Gegentheile stets frei, gestatten, daß man mit dem Boote dicht an sie herankommt, fliegen endlich auf, flattern über dem Wasser dahin und lassen sich bald wieder nieder. Sie verdienen ihren wissenschaftlichen Namen in keiner Weise; denn sie sind nichts weniger als »unglückverkündende«, vielmehr höchst anmuthige und harmlose Vögel, welche die ohnehin anziehenden Wasserrosen und ähnliche Pflanzen in so hohem Grade schmücken, daß sie jedermann für sich einnehmen, wenn auch ihr Wesen dem günstigen Eindrucke, welchen sie hervorrufen, nicht in jeder Hinsicht entspricht. In ihrem Gange auf den Blättern, welche keinen anderen Vogel gleicher Größe tragen, liegt der Zauber, mit welchem sie den Reisenden umstricken, oder der Grund der abergläubischen Sagen, welche sie hier und da ins Leben gerufen haben. Ihren Blättern entrückt, erscheinen sie ungefügig und ungelenk. Zwar sind sie auch fähig, mit Leichtigkeit über dünnflüssigen Schlamm zu wandeln, aber kaum noch im Stande, in höherem Grase sich zu bewegen, und ebensowenig geschickt im Schwimmen oder im Fliegen. Einige Arten hat man noch gar nicht schwimmen sehen, andere jedoch als Taucher kennen gelernt. Im Fluge leistet keine einzige Art hervorragendes. Die Stimme soll durch ihre Sonderbarkeit auffallen und bei einigen wie ein Gelächter klingen. Ueber die geistigen Eigenschaften fehlen ausführlichere Beobachtungen; doch weiß man, daß sie richtige Beurtheilung der Verhältnisse bekunden, sich des Wohlwollens, welches man ihnen überall gewährt, bewußt sind und deshalb gerade so zutraulich zeigen, wogegen sie, verfolgt, bald scheu werden und durch ihren Warnungsruf nicht bloß ihresgleichen, sondern auch andere Vögel von einer bevorstehenden Gefahr unterrichten. Unter sich leben sie nach Rallenart in Unfrieden. Jedes Pärchen behauptet, heftig kämpfend, sein Gebiet und duldet innerhalb desselben kein zweites.

Die Nahrung besteht zeitweilig fast ausschließlich aus den Sämereien der betreffenden Pflanzen, auf denen sie sich umhertreiben, nebenbei aber auch aus verschiedenem Kleingethiere. Das Nest wird auf festem Lande errichtet und mit drei bis vier Eiern belegt.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 407-409.
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