Arzt, Direktor, Leibarzt und Professor in Berlin bis zum Kriege, 1801–1806

[90] Im Anfang April 1801 zog ich nach Berlin. Ich betrat einen für mich ganz neuen Schauplatz, eine große Welt, in der ich wirken sollte, einen königl. Hof, dem ich als Leibarzt dienen sollte, eine medizinische Fakultät, der ich als Direktor vorstehen sollte, ein großes Krankenhaus, in welchem ich der erste Arzt sein sollte, überdies noch die Akademie der Wissenschaften, die meine Tätigkeit in Anspruch nahm. Es waren viele und wichtige Geschäfte, die meine ganze Kraft erforderten, ja überstiegen. Höchst gnädig und ermunternd war die Aufnahme von Seiten des Königs, der Königin und der ganzen königlichen Familie, sowie von Seiten des Publikums, was mir bald ein allgemeines Zutrauen schenkte. – Schwieriger war das Verhältnis zu den Kollegen von Seiten des Collegium medicum, die größtenteils viel älter als ich (Walter, Mayer, Gönner), zum Teil selbst auf die Direktorstelle Anspruch gemacht hatten, und mich jungen Mann nun als Direktor anerkennen sollten. Am allerschwierigsten war aber das Verhältnis zur Charité, wo ich in meinem Kollegen Fritze einen der wütendsten Brownianer fand; und in dem Hause eine Menge Übelstände, die[90] ich so gern verbessert hätte, aber wegen der vielen konkurrierenden Behörden, und weil ich nur koordiniert, aber nicht vorgesetzt war, nicht abstellen konnte. Ich tat mein möglichstes, aber es entstand nun das unangenehme Verhältnis, daß, wenn Fritze in den Krankensälen alles nach Brownschen Grundsätzen behandelte (und z. B. sich rühmte: während eines ganzen Jahres kein einziges Mal Ader gelassen zu haben), ich in dem Hörsaal desselben Hauses Vorträge über die Wichtigkeit und Schädlichkeit dieses Systems hielt. – Das schlimmste war, daß meine ökonomische Lage – ich hatte nur 1600 Taler Gehalt und dabei eine zunehmende Familie – mich nötigte, viel Praxis zu übernehmen, um die zum Leben und zur Equipage notwendigen 4–5000 Taler zu erwerben. Die Folge war, daß ich bald meine ganze Zeit, von früh 0 bis 4 Uhr, und abends von 5 bis 8 Uhr auf der Straße zubringen, täglich 30–40 Krankenbesuche machen mußte, und weder meiner Wissenschaft, noch dem Lehramt, noch meiner Familie leben konnte. Ich wurde beneidet, schien äußerlich glücklich. – Mursinna sagte mir einst: »Sie sind der glücklichste Mann, haben die schönste Frau, die schönste Equipage, das reichste Einkommen« – und dennoch fühlte ich mich innerlich[91] unglücklich! Mein Geist konnte nicht mehr der Wissenschaft leben, meine literarischen Arbeiten lagen darnieder, für das Lehramt konnte ich fast gar nichts tun und selbst mein Kopf ging durch die arge praktische Zerstreuung unter, meine Gesundheit fing an durch die übermäßigen Anstrengungen zu leiden. Ich fühlte, daß es in die Länge so nicht bleiben konnte. Aber wie es ändern? – Da kam im Jahre 1803 Brandisaus Hannover nach Berlin und trug mir die Professur der Therapie und Klinik in Göttingen (die nachher Himly bekam) an. Dies war ganz meiner Neigung angemessen und ich ging darauf ein. Aber der König hatte von dieser Unterhandlung gehört, er wünschte mich zu behalten und sagte: »Wenn man den Vogel behalten will, so muß man ihm ein Nest bauen.« Er ließ mir 20000 Taler anweisen zum Bau eines neuen Hauses. Ich zog es vor eins zu kaufen, was ich sogleich beziehen konnte, wozu ich aber nur 15000 Taler erhielt.

So war ich durch die Gnade des Königs und das mir dabei bewiesene Vertrauen gefesselt. Die Dankbarkeit verpflichtete mich zu bleiben, ich hielt es für Gottes Willen, und beschloß, im Vertrauen auf Ihn, mein Leben wie bisher fortzusetzen, nicht ahnend, wie bald eine Änderung darin eintreten würde.[92]

Einen großen Kummer bereitete mir damals eine Kabale, die der alte Fritze spielte. Ich hatte darauf gerechnet, bei seinem bald zu erwartenden Abgange den Zustand der Charité zu verbessern, und besonders statt der Brownschen Schule eine bessere zu gründen. Dies ahnend und zu verhindern suchend, hatte er ganz in der Stille, durch Formeys und Schulenburgs Mitwirkung, einen der damaligen heftigsten jungen Brownianer, den Dr. Horn, für die Charité als seinen Gehilfen und Nachfolger engagiert, und ich erfuhr es zu spät, um es rückgängig machen zu können. So war mir die ganze Aussicht für die Zukunft getrübt.

Doch besonders wohltuend für mich war die gnädige Gesinnung der liebenswürdigen edlen Königin, die sie mir immer mehr zuwendete. Und ein ganz besonders beglückender und meine geschwächte Gesundheit stärkender Zeitraum war die Reise, die ich im Jahre 1806 mit ihr nach Pyrmont und für mich nach Nenndorf (wegen eines Anfalles von Flechten) machte (mit Kiesewetter und Nolte). Es war die glücklichste Zeit, die ich seit vielen Jahren genoß, aber auch die letzte Abendröte des scheidenden Tages für die Königin und uns alle.[93]

Denn schon bei der Abreise im August hörten wir, daß die Armee Marschordre erhalten hatte und daß der Krieg gegen Napoleon beschlossen war.

Quelle:
Hufeland. Leibarzt und Volkserzieher. Selbstbiographie von Christoph Wilhelm Hufeland. Stuttgart 1937, S. 90-94.
Lizenz:
Kategorien: